Avantgarde für alle

Von Tobi Müller · 18.06.2013
Portishead, die britischen Pioniere des Trip Hop, spielten in Berlin-Spandau unter freiem Himmel. Fast 10.000 Besucher sahen ein seltenes Kunststück: Wie man das Zerfasern von allem kräftig und klar darstellen kann. Das war Massenkunst im besten Sinne.
Man kann sich Passenderes vorstellen an einem spektakulären Sommerabend, als der niedertourigen Musik von Portishead zu huldigen. Vor allem, wenn man der Sängerin auch textlich folgen möchte. Wenn Beth Gibbons singt, erzählt sie von leeren Herzen und verwirrten Menschen. Ein Liebeslied ist ein Lied, in dem die Sängerin mit oben brechender Altstimme fordert: "Nenne mir einen Grund, warum ich dich lieben soll."

In der Zitadelle in Berlin-Spandau, wo Portishead ihr einziges Konzert in Deutschland spielen, lässt man sich den Spaß von dem bisschen Depression noch lange nicht nehmen (innerhalb von zwei Festivalprogrammen wird man sie dennoch sehen können). Neben mir küsst ein Paar innig, als hätte es nur auf das Stichwort gewartet. Hinter mir schreien zwei spanische junge Frauen die Lieder mit, als handelte es sich um Partykracher. Und eine schick übertatöwierte Hipsterin hält begeistert ihren Tabletrechner hoch, um zu filmen und ein bisschen zu kreischen auch. Kurz: Es sind alle euphorisiert von dieser doch sehr schlechten Laune. Allein, mir geht es ähnlich. Denn es war: toll.

Was passiert da genau, wenn eine Band, die in 20 Jahren nur drei Alben geschafft hat, die Leute mit Downtempo, sachtem Hip Hop und einer Stimme kurz vor dem Verstummen derart in ihren Bann ziehen kann? Nun, es passiert Kunst. Die tieftraurigen Texte und die Stimmung, die sie auch ohne Textverständnis hervorrufen, wirken klar und konzentriert und dadurch wieder schon wieder kräftig. Das ist kein harter Widerspruch, sondern bei Portishead ein schönes Verhältnis: Je mehr die Vorstellung einer Sängerin zerbröselt und je klarer sie das vorführen kann, desto souveräner die Wirkung. Es gibt noch keinen Grund, traurig zu sein, so lange man so bestimmt von der Traurigkeit singen kann.

Sie buhlt nicht um die Menge
In Berlin wendet sich Beth Gibbons manchmal fast vom Publikum ab. Nie buhlt sie um die Menge. Den ganzen Abend sagt sie kein Wort. Hier spricht die Musik, mit Arroganz hat das nichts zu tun (es würde mich wundern, wenn das jemand so wahrgenommen hätte). Oft sucht die Sängerin Kontakt zu Geoff Barrow, dem Mastermind hinter der Musik von Portishead, der zwischen Gitarrist Adrian Utley und einem Tourschlagzeuger fast versteckt steht. Hier wird nichts direkt veräußert, die Musik wird einem nicht vor die Füße geworfen, der Gestus ist einer der Aufführung.

Fast orchestral wirken denn auch die Live-Arrangements, obwohl nicht allzu viele Mietmusiker herumstehen, schon gar keine Streicher. Aber wo auf den drei ganz unterschiedlichen Alben von Portishead der Geist der Maschine umgeht, spielt auf der Bühne eine leibhaftige Band. Wenn der Eindruck nicht täuscht, kam da sehr wenig vom Band. Zwei äußerst disziplinierte Gitarren machten die Räume groß, und Geoff Barrow unterstützte mal die Perkussion, mal legte er ein paar Akkorde auf der Orgel oder dem Elektropiano, mal scratchte er kurz und heftig, wenn die akustischen Beats lauter wurden.

Obwohl einige Arrangements durchaus von den Studioversionen abweichen, setzen sich Portishead nie zu lange in eine ihrer so plastischen Stimmungsarchitekturen und lümmeln dort herum, weil man das live eben so machen kann und mit dieser Musik bestimmt gut könnte. Die Songs sind zu Ende, wenn sie zu Ende sind. Deswegen wirkt ihr Werk live nie klebrig, innerlichkeitsselig oder zartistisch. Am Ende siegt immer die Kraft, von deren Abwesenheit sie so filigran erzählen können.

Schockgefrorene Riffs
Portishead lieferten wie nebenbei eine kleine Lektion in Retrofuturismus, oder: wie die Vergangenheit die Zukunft sah. Schon in den 90er-Jahren sampelten sie Sounds von alten Filmmusiken (etwa von Lalo Schifrin, der viel für Clint Eastwood komponierte). Andere Riffs sind wie von Beatles Songs herausoperiert und dann schockgefroren. Und doch wies vieles in die Zukunft: Wer die dunkle Bassmusik des Dubstep kennt, hört Verbindungen, selbst wenn Portishead selten in der Tiefe dröhnen.

Einer der außergewöhnlichsten Produzenten der zweiten Hälfte der Nullerjahre wäre ohne Portishead undenkbar: Danger Mouse, der mit dem Sänger Cee Lo Green zwei wunderbar verspielte Popalben unter dem Namen Gnarls Barkley gemacht hat. Die Temperatur von Gnarls Barkley war ungleich höher, aber der futuristische Umgang mit Musikgeschichte wirkte ähnlich. Und Gnarls Barkley trieb den scheinbaren Widerspruch in die Extreme: von Depression zu singen und sich dabei zu kugeln vor Lachen. Portishead mögen mehr Zwischentöne, aber das Prinzip bleibt: Avantgarde für alle.