Autismus

Maral fährt Tandem

Maral Schäfer sitzt auf einer Bank vor einem Fachwerkhaus, vor ihr das rote Tandem.
Maral fährt gerne Tandem mit ihrem Vater. © Olaf Schäfer
Von Kemal Hür · 19.10.2017
Mehr als 16.000 Kilometer haben Maral und Olaf Schäfer mit ihrem roten Tandem schon zurückgelegt. Keine Selbstverständlichkeit, denn für die 16-Jährige ist körperliche Anstrengung - genauso wie Körperkontakt - eine große Barriere. Maral ist Autistin.
Gespräch zwischen Vater und Tochter, auf einem Handyvideo:
Olaf:"Ja, hier fahren sie, die lustigen Radfahrer auf ihrem Tandem. Das Land ist hier platt. Zum Glück scheint die Sonne heute mal. Und ... "
Maral: "Die Rheinland-Pfälzer haben seit heute wieder Schule."
Olaf: "Ach so, die Rheinland-Pfälzer haben seit heute wieder Schule. Das ist etwas, was Maral sehr beschäftigt."
Die lustigen Radfahrer im Handyvideo, das sind der Lehrer Olaf Schäfer und seine 16-jährige Tochter Maral auf einem roten Tandem. Die beiden machen seit neun Jahren in den Sommerferien lange Fahrradtouren. Schäfer hält die Touren in einem Tagebuch und in kurzen Videos fest. Einige Tage nach diesem Handyvideo kommen Vater und Tochter in Niedersachsen an. Auch dort hat schon die Schule angefangen. Maral ist fasziniert davon, dass sie noch Ferien hat, während die Kinder in Emden wieder die Schulbank drücken. Sie möchte mal in die Schule hineinschauen, an der sie zufällig vorbeifahren. Der Vater hält sofort an und ist noch damit beschäftigt, das Fahrrad zu sichern. Da ist Maral schon im Schulgebäude.
Olaf: "Nun wartete ich draußen mit dem vollgepackten Tandem und da kam sie nicht mehr raus (lacht). Ich wurde ganz nervös. Dann habe ich das Tandem abgestellt und bin in die Schule rein. Und da saß Maral mitten in einer Schulklasse. Die waren wahrscheinlich rausgegangen. Auf jeden Fall lagen alle Schultaschen, alles lag da. Maral saß allein in dem Klassenraum. Und ich sagte, 'Mensch, was machst du hier? Das geht doch nicht.' Dann sind wir ganz schnell wieder raus. Aber Maral war natürlich in der Schule und war ganz begeistert. Und du weißt natürlich noch, an welchem Datum das war?"
Maral: "Ja! 16. August 2017. Und dann möchte ich noch etwas sagen. An dem Tag stand an der Tafel, 'Langfristige Hausaufgabe bis zum 29. September: Erstelle ein Poster über den Dreißigjährigen Krieg im Geschichtsunterricht.'"

Ortswechsel bereiten Maral keine Probleme

Maral ist Autistin und hat die Begabung, sich Daten zu merken und Wochentage Daten zuzuordnen, und zwar von 1900 bis heute. Obwohl Autisten Schwierigkeiten mit Ortswechseln haben, bereiten die langen Fahrradtouren Maral keine Schwierigkeiten, erzählt Vater Olaf Schäfer, der einen Doktortitel in Erziehungswissenschaften hat. Maral kann nicht selbst Fahrrad fahren, ist aber mit ihrem Vater innerhalb der letzten neun Jahre insgesamt 16.000 Kilometer kreuz und quer durch das gesamte Bundesgebiet gefahren:
"Ich habe keine Angst, auf dem Tandem zu sitzen, einfach, weil ich weiß, dass mein Vater dabei ist und dass der immer gut auf mich aufpasst und dass er mich nicht vernachlässigt. Und das ist für mich ein schönes Gefühl."
Das zeigt sich zum Beispiel in der Wörlitzer Parklandschaft, die beiden sind da schon fast 932 Kilometer gefahren und zeichnen den Stand auf dem Handy auf. In diesem kurzen Video sieht man Olaf und Maral Schäfer auf einem Radweg durch einen Wald fahren. Der Vater sitzt vorne, ist also der Captain, die Position der Tochter auf dem Rücksitz heißt Stoker, also Heizer. Aber die Aufgabe als Heizerin muss Maral nur selten erfüllen, weil sie meint, der Vater sei fit genug:
"Ich helfe ihm schon. Aber die Pedale drehen sich trotzdem von selbst. Also es würde auch funktionieren, wenn ich ihm nicht helfen würde."
Ihr Vater sagt: "Als Maral klein war, sie hat ja mit acht Jahren die erste Tour gemacht, da war es so, dass sie die Füße tatsächlich teilweise in den Rahmen gelegt hat. Und dann drehten sich die Pedale tatsächlich von selbst. Jetzt ist es so: Maral hilft sehr wohl mit. Und das ist auch interessant. Manchmal sage ich: 'Du, jetzt musst du etwas stärker treten. Hier kommt ein Berg. Sonst müssen wir absteigen. Absteigen mag Maral überhaupt nicht. Dann habe ich das Gefühl, der Turbo setzt ein, weil Kraft hat sie. Ja, dann kommen wir gut nach vorne. Mittlerweile hilft sie schon mit. Wir fahren normale Geschwindigkeiten; die könnten wir nicht schaffen, wenn ich alleine treten würde."

In der Schule klappt es sogar mit der Partnerarbeit

Die Idee zu den Tandemtouren entstand aus der Not heraus, erzählt Schäfer. Der vielfach begabte Schäfer spielt nicht nur mehrere Musikinstrumente und singt in vielen Sprachen. Er ist auch leidenschaftlicher Sportler, läuft schon seit 26 Jahren Marathon, manchmal mehrere in einem Jahr. Mit 17 Jahren ist er mit dem Fahrrad von seiner Geburtsstadt Darmstadt bis nach Oslo und zurückgefahren. Vor neun Jahren wollte er probieren, ob er seine Tochter auch für das Fahrradfahren begeistern kann. Mit einem Tandem hat es tatsächlich geklappt.
Maral besucht die elfte Klasse eines Gymnasiums. Ihre Leistungsfächer sind Biologie und Englisch. Den Sportunterricht aber mag sie gar nicht:
" ... weil man dort nicht still auf dem Stuhl sitzen darf, sondern sich bewegen muss, 20 Minuten Ausdauerlauf machen muss, oder 40 Liegestütze. Und das ist sehr anstrengend für mich. Ich mag es ganz gerne ruhig und still auf dem Stuhl zu sitzen, den Stift in die Hand zu nehmen, etwas zu schreiben und mich nicht bewegen zu müssen und in Anführungsstrichelchen faul sein kann. Aber nicht faul im Sinne von denkfaul, sondern dass ich nicht rennen muss."
Maral weiß, dass der Grund dafür ihr Autismus ist. Sie spricht offen darüber und informiert Menschen, wenn die Situation es erfordert. Wenn ihr jemand zur Begrüßung zum Beispiel die Hand geben will, sagt sie:
"Tut mir leid, ich bin Autistin; ich gebe leider keine Hand. Normalerweise akzeptieren sie das. Ich kann mich jetzt an keinen Tag erinnern, wo jemand es nicht akzeptiert hat."
Auch ihre Klassenkameraden wissen, dass Maral keinen Körperkontakt mag. Maral schaut ihre Gesprächspartner nicht an; Augenkontakt vermeidet sie genauso wie Körperkontakt. Die Mitschüler wissen das und verstehen es, wenn sie in den Hofpausen nicht mit ihnen spielt:
"Autismus bedeutet, ich bin in mir selbst gefangen. Es fällt mir schwer, wenn zwei Menschen kommunizieren: Warum kommunizieren sie miteinander? Und was wollen sie voneinander? Das fällt mir schwer. Die Kommunikation mit Erwachsenen fällt mir meistens nicht schwer. Aber die Kommunikation mit Kindern fällt mir meistens schwer, nicht immer, aber meistens. Aber ich habe keine gleichaltrigen Freunde."
Wenn im Unterricht aber Partnerarbeit ansteht, hat Maral damit kein Problem, erzählt sie. Der Vater kann es bestätigen. Er hat es an einem Tag der offenen Tür beobachtet, erzählt er:
"Es war eine Französisch- oder Englischstunde. (Maral: "Französisch!") Französisch, ja, du weißt es wieder. Sie sollten Partnerarbeit machen. Die rissen sich richtig um Maral, weil sie wussten, wenn wir jetzt einen Text schreiben müssen, wie heißt das Wort? Dann weiß Maral natürlich, wie es geht (lacht). Da hat sie also ein gutes Standing, ist gut akzeptiert. Und auch die anderen Kinder, das ist meine Beobachtung, akzeptieren sie in ihrer Besonderheit. Sie wissen, Maral ist anders. Aber sie läuft da mit. Sie wird da weder gemobbt, noch irgendwas anderes. Das war eine große Angst, die ich hatte."

Bis zum Studium soll Maral auf eigenen Füßen stehen

Olaf Schäfer hat aber nicht auf Anhieb Glück gehabt mit der Schule. Es gab Schulen, die Maral nicht aufnehmen wollten. Das Gymnasium, das sie jetzt besucht, ist eine inklusive Schule, an der viele hörgeschädigte Kinder unterrichtet werden. Weil der Unterricht deswegen etwas langsamer läuft, dauert es 13 Jahre bis zum Abitur. Maral weiß noch nicht, welchen Beruf sie später ergreifen möchte.. Aber es muss eine Arbeit sein, sagt sie, die sie am Computer erledigen kann.
"Ich mag Computer generell sehr gerne. Zu Hause surfe ich immer im Internet. Im Informatikunterricht arbeite ich auch mit dem Computer. Und das macht mir auch Spaß. Und ich möchte sowas auch im Beruf machen, also dass ich den Computer nicht zum Spielen, sondern zum Arbeiten benutze, zum Beispiel Sachen programmiere oder Tabellen ausfülle, oder mit dem Computer etwas schreiben muss."
Bis dahin - so der promovierte Erziehungswissenschaftler und Vater - wollen beide daran arbeiten, dass Maral ihr Leben selbständig bewerkstelligen kann. Die 16-Jährige kann einfache Suppen kochen und Fertigpizza backen, mehr aber noch nicht. Eine Rundumbetreuung braucht sie nicht. Sie fährt mit der U-Bahn allein zur Schule, auch mit der Bahn von Berlin zu ihrer Großmutter nach Hessen, wenn sie in den Ferien mal nicht mit dem Vater auf dem Tandem unterwegs ist. Bis zum Studium, so die Hoffnung von Olaf Schäfer, sollte Maral auf eigenen Füßen stehen können:
"Das Ziel ist, dass sie vollkommen selbständig ist und ganz selbständig leben kann. Mit 18 sollte sie ihre Geschäfte selber regeln. Sie sollte wählen gehen können, alle diese Sachen. Also sie sollte die vollen Bürgerrechte haben. Wenn sie Hilfe braucht, dann muss man diese Hilfe organisieren, und zwar organisieren, bevor man selber zum Pflegefall wird. Und da, denke ich, macht es einfach Sinn, das frühzeitig in Angriff zu nehmen und auch als Ziel zu haben."
Doch bis zum Abitur sind es noch zwei Jahre. Und bis dahin werden die beiden noch einige Tandemtouren unternehmen und gemeinsam viele Lieder singen. Musik ist nämlich neben dem Tamdemfahren die andere Leidenschaft der beiden.