Authentizität

Ein Konzept voller Fallstricke

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Eine historische Fotografie von zwei Männern, die an einem Tisch Spagetti essen.
Sehr authentisch, die Spaghetti. Pizza zeigen wir nicht im Bild - die wäre nur regional authentisch. © Getty Images / Mondadori Portfolio / Emilio Ronchini
Erik Schilling im Gespräch mit Dieter Kassel · 17.09.2020
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Authentisch sein: Das ist doch was Tolles! Oder nicht? Der Literaturwissenschaftler Erik Schilling sieht die Sehnsucht nach Authentizität in seinem neuen Buch kritisch. Er warnt, sie könne sogar in ein "totalitäres Konzept" umkippen.
Jeder möchte gern authentisch sein. Wenn über jemanden gesagt wird, er sei es, wird das allgemein als großes Lob verstanden. Und Musiker, Schauspieler, Politiker sollen bitteschön besonders authentisch sein, damit wir auch den "echten" Menschen sehen.

Authentizität als "Ersatzreligion"

Der Literaturwissenschaftler Erik Schilling seziert die "Authentizität" in seinem neuen Buch, und es bleibt danach nur wenig von der positiven Konnotation des Begriffs übrig. Der große Drang nach Authentizität ist für Schilling nichts anderes als eine "Ersatzreligion":
Die Menschen glaubten nicht mehr an Gott, also verlagerten sie ihre Sehnsucht nach dem, was ewig wahr ist und besteht, sagt Schilling. Und zwar auf Dinge und Personen. In der gottlosen Welt wachse die Sehnsucht nach etwas Wirklichem, "das immer so bleibt, wie es ist".
Dabei ist es dem Literaturwissenschaftler zufolge unglaublich schwer, festzustellen, was denn nun überhaupt authentisch ist. Eines seiner Beispiele ist das italienische Restaurant, das in Deutschland vielen als authentisch gilt, wenn dort Pizza serviert wird.
Pizza gibt es in Italien als traditionelles Standardgericht aber nur im Süden des Landes. Für das italienische Restaurant ist Pizza also gar nicht typisch.
Wer das weiß, geht in Deutschland in die "echte" italienische Trattoria, die ihm deswegen als besonders authentisch erscheint, weil es dort keine Pizza gibt.

Zuschreibung von außen

Ähnlich geht es Schilling zufolge zu, wenn es um die Authentizität von Menschen geht. Denn in der Regel ist Authentizität – wie im Restaurant-Beispiel – erst einmal nur eine Zuschreibung von außen, eine Erwartungshaltung, die bedient wird oder nicht. Wird sie erfüllt, gilt die betreffende Person als authentisch. Wenn nicht, hat er oder sie einen schlechten Tag gehabt und war gar nicht er oder sie selbst.
Schilling warnt davor, dass die Sehnsucht nach der Authentizität auch in ein "totalitäres Konzept" umkippen kann. "Wenn ich in jedem Moment behaupte, ich selbst sein zu wollen und zu müssen, dann haben meine Mitmenschen eigentlich keine andere Wahl, als mich so zu akzeptieren. Oder mir aus dem Weg zu gehen."
Es müssten verschiedene Rollen möglich sein und die Interessen immer wieder neu ausgehandelt werden, sagt Schilling: "Wenn ich nur authentisch zu sein glaube, indem ich morgens in der U-Bahn Helene Fischer singe, dann bin ich vielleicht in meiner Wahrnehmung authentisch. Aber für meine Mitmenschen ist das eine Zumutung."

Professionalität und situatives Verhalten

Der Sehnsucht nach Authentizität setzt der Literaturwissenschaftler Professionalität, sich nach Situationen richtendes Verhalten und die Toleranz gegenüber Widersprüchen entgegen. Ein Loblied singt er auf Angela Merkel: Die bediene ihr Amt im Sinne einer professionellen Rolle. "Es gibt die Rolle der Bundeskanzlerin, und die füllt Frau Merkel aus." Wie sie privat, also "wirklich" sei, könne man kaum beurteilen.
Donald Trump sei hingegen sehr authentisch.
(ahe)

Erik Schilling: Authentizität. Karriere einer Sehnsucht
C.H. Beck Verlag, München 2020
156 Seiten, 14,95 Euro

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