Ausstellung zur Alltagskultur in Gießen

Die Gießkanne als treue Lebensbegleiterin

Alte Gießkanne mit Gartenblumen
Gießkannen - ein Phänomen der Alltagskultur. © imago/Photocase/Vicuschka
Von Andrea Gerk · 23.07.2018
Dass ein Gefäß zum Bewässern von Pflanzen weit mehr ist als ein schnöder Gegenstand, kann man im Gießkannenmuseum erfahren. Das befindet sich − natürlich in Gießen. Viele der 1300 Exponate erzählen Geschichten deutscher Alltagskultur.
Auf fünf Zinkblech-Gießkannen, die mit einem schlichten Schlauch zum Instrument umgebaut wurden, musiziert das Gießkannenensemble Gießen. Zusammengefunden hat das Bläsertrio aus Anlass der Museumsgründung im Jahr 2011. Ein einfallsreicher Gießener Bürger hatte damals die sinnige Idee, denn Gießen und die Gießkanne sind ja bereits durch ihren gemeinsamen Wortstamm verbunden.
Im Rahmen der Landesgartenschau vergab die Stadt den Auftrag zur Ausgestaltung der Museumsidee an die Künstlergruppe "gärtnerpflichten", zu der auch Ingke Günther und Jörg Wagner gehören. Das Künstlerpaar setzt sich in seiner Arbeit ohnehin mit Phänomenen der Alltagskultur auseinander, betreibt etwa die künstlerische Erforschung von Abendbrotgewohnheiten, sammelt Schimpfwörter oder führt Kochaktionen durch.
Diese klassische Gartenkanne hat lange in Südfrankreich in einem Obstgarten gedient. Die deutschen Vorbesitzer sind vor einigen Jahren dorthin ausgewandert.
Diese klassische Gartenkanne hat lange in Südfrankreich in einem Obstgarten gedient. Die deutschen Vorbesitzer sind vor einigen Jahren dorthin ausgewandert.© Gießkannenmuseum
Jörg Wagner: "Das Tolle am Gießkannenmuseum ist ja, dass wir nicht nur Alltagsdinge ausstellen, sondern auch die Alltagsgeschichten dazu. Und die Geschichte ist hier, es kam 'ne ältere Dame mit der Kanne ins Museum und hat die abgegeben und erzählt, dass sie die zum 16. Geburtstag bekommen hat, als sie das erste Mal ein eigenes Zimmer bekommen hat. Was dann wiederum toll ist, wenn wir Schulklassenführungen machen, die denken dann: Was, mit 16 das erste eigene Zimmer, wie geht denn das? Und das erzählt halt ganz viel über die Zeit, über die Alltagskultur damals. Abgesehen davon ist es ein wunderschönes Stück."

Eine Kanne aus dem 3-D-Drucker

Was sich über sehr viele der 1300 Gießkannen sagen lässt, von denen rund 700 wechselnde Exponate im Museum zu sehen sind, das übrigens nur wenige Schritte von Deutschlands ältestem Botanischen Garten entfernt ist.
Ingke Günther: "Dieses Stück ist eine ganz besondere Kanne, die ist aus Berlin zu uns gekommen, die ist mit dem 3-D-Drucker hergestellt. Die heißt '4 Stunden 40 Minuten'. So lange hat es gedauert, diese Gießkanne herzustellen."
Langtülliges Kakteenkännchen
Im Rahmen einer Führung für eine Schulklasse wurde dieses langtüllige Kakteenkännchen überreicht. Es stammt von der Großmutter der Spenderin.© Gießkannenmuseum
Diese Freilandkanne ließ der Eat-Art-Künstler Daniel Spoerri eigens für das Gießkannenmuseum mit einem Traktor überfahren.
Diese Freilandkanne ließ der Eat-Art-Künstler Daniel Spoerri eigens für das Gießkannenmuseum mit einem Traktor überfahren.© Gießkannenmuseum
Besonders ist auch die Kakteenkanne, die Ernest Hoffmann in der 50er-Jahren designte oder das formschöne, aber eher unpraktische Modell aus Keramik von Hedwig Bollhagen. Oder auch die Kunstledertasche in Gießkannenform, der DDR-Klassiker "Schlanker Hahn" mit abnehmbarem Kamm zum Wassereinfüllen oder das plattgewalzte Zwölf-Liter-Freilandmodell aus Hadersdorf, das der österreichische Eat-Art-Künstler Daniel Spoeri extra fürs Gießkannenmuseum von einem Traktor überrollen ließ.
Jörg Wagner: "Wir dachten am Anfang, wenn wir mal hundert Kannen haben, dann kennen wir das Sortiment. Und jetzt haben wir 1300 und es kommen immer wieder Dinge, wo man denkt, das gibt's doch gar nicht, wie sieht denn das aus. Wie kommt man auf 'ne Form? Oft ist es auch nicht funktional, man denkt ja, bei 'ner Gießkanne muss ja mindestens mal die Funktion stimmen, aber ganz viele Kannen sind einfach nur Gestaltungswunder und funktionieren als Gießgerät gar nicht."

Der Orchideensprenger von Opa Werner

Nicht nur ästhetisch zeigt das Gießkannenmuseum den ganzen Formenreichtum eines Alltagsgegenstandes. Mit jedem Exponat kommt auch eine Lebensgeschichte ins Museum, die systematisch archiviert wird.
Ein Flohmarktfund aus Frankreich: Ein Fan des Gießkannenmuseums hat das antike (und kostspielige) Stück aus den 30er-Jahren extra für das Museum erhandelt.
Ein Flohmarktfund aus Frankreich: Ein Fan des Gießkannenmuseums hat das antike (und kostspielige) Stück aus den 30er-Jahren extra für das Museum erhandelt.© Gießkannenmuseum
Jörg Wagner: "Die hier zum Beispiel, die 'Dra s 4, Modell Opa Werner 2' ist von Opa Werner, ein Erbstück. Opa Werner ist verstorben, und wir haben die im Herbst bekommen. Die hier, so'n Wäschesprenger war das mal, ist umgebaut worden als Orchideensprenger. Opa Werner hatte 'ne große Orchideensammlung und hat die über Jahrzehnte gepflegt. Und Opa Werner ist jetzt verstorben, aber die Kanne mit der Geschichte von der Orchideensammlung lebt noch. Und der Enkel, der sie uns gebracht hat, freut sich jedes Mal, wenn er herkommt und hat auch wieder 'ne Erinnerung an Opa Werner und diese Geschichte."

Das Gießkannenmuseum ist also auch ein Erinnerungsraum – nicht nur für die Spender der Gießkannen, die inzwischen sogar aus Weißrussland, Vietnam oder Australien nach Gießen gelangen, sondern auch für die Besucher.

Treue Lebensbegleiter

Ingke Günther: "Also wenn wir jetzt in das Regal gucken mit den ganzen Messingkännchen, dann erinnert man dazu sofort die ganze Einrichtung dazu, jede Mutter, Tante oder Oma hatte so ein kleines Kupferkännchen auf der Fensterbank stehen, dazu das Usambara-Veilchen, die Heizungsbelüfter, die ganze Einrichtung. Und diese Kännchen nennen wir auch ganz liebevoll Schwiegermutterkannen, weil ganz viele Schwiegertöchter die Kannen hier abgeben: 'Ist von meiner Schwiegermutter, möcht' ich jetzt nicht mehr haben.'"
Die italienische Designerkanne mit dem Modellnamen "Pipe Dreams" wurde dem Gießkannenmuseum von einer Innenarchitektin gespendet.
Die italienische Designerkanne mit dem Modellnamen "Pipe Dreams" wurde dem Gießkannenmuseum von einer Innenarchitektin gespendet.© Gießkannenmuseum
Das formschöne Kännchen stammt von einer Flohmarktgängerin, die immer wieder besondere Stücke für das Museum ergattert hat.
Das formschöne Kännchen stammt von einer Flohmarktgängerin, die immer wieder besondere Stücke für das Museum ergattert hat.© Gießkannenmuseum
Ob es die Messingkanne mit ihrer gewagt geschwungenen Tülle ist oder die kaputtgespielte, bunte Kindergießkanne − die scheinbar schlichten "Gefäße zum Bewässern von Pflanzen" katapultieren einen in die eigene Lebensgeschichte und erweisen sich noch dazu als treue Lebensbegleiter.
Jörg Wagner: "Das ist es wohl auch, was es ausmacht, dass die Gießkanne ein unheimlich positiv besetzter Gegenstand ist. Das ist nicht irgendein Haushaltsgegenstand. Man tut immer was Positives, man gibt der Pflanze Wasser, man spendet Leben irgendwie. Das war uns auch nicht klar, dass die Gießkanne immer dieser Moment der positiven Handhabung ist und vielen auch ans Herz wächst."
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