Ausstellung in Heidelberg

Kunst aus der Psychiatrie

Eine "Irrenanstalt" soll mit diesem Bühnenbild symbolisiert werden, das in dem Tanzstück "Sehn-Sucht" am Geraer Theater unterschiedliche Rahmen für die Akteure bietet. In dem Ballettabend "Pop-Stories" wird in zwei nach Rock- und Popmusik getanzten Geschichten auf Konflikte junger Menschen im Sektenmilieu und in selbstzerstörerischer Alkoholabhängigkeit eingegangen.
Eine "Irrenanstalt" auf der Bühne: Viele der Künstler arbeiteten jahrelang aus dem Krankenhaus heraus. © dpa / picture alliance / Jan-Peter Kasper
Von Rocco Thiede · 19.07.2015
Malerei oder Bildhauerei ist oft auch ein Kanal, durch den sich psychisch Kranke ausdrücken. Eine Schau in der Heidelberger Universität stellt nun Werke von ihnen aus, und es zeigt sich: Auffallend viele der Arbeiten haben einen religiösen Hintergrund.
"Die Bildnerei der Geisteskranken" lautet der Titel eines von Hans Prinzhorn 1922 im Auftrag der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik publizierten Buches, das heute ein Klassiker ist. Gegenwärtig ist eine hochkarätige Auswahl der 6000 Werke umfassenden Prinzhorn Sammlung in der Heidelberger Universität zu sehen.
Dem aufmerksamen Besucher der Ausstellung mit dem etwas absonderlichen Titel "Das Wunder in der Schuheinlegesohle", fallen recht bald die vielen Werke mit religiös-spirituellem, meist christlichem Bezug auf. Über ein Drittel aller in der Schau zu sehenden Kunstwerke haben einen religiösen Hintergrund. Dass so viele Werke die Religion in der damaligen Gesellschaft widerspiegeln, begründet der Leiter der Heidelberger Sammlung Thomas Röske so:
"Für viele ist halt der Glauben damals ein ganz wesentlicher Rückhalt für die Wahrnehmung von Welt und vor allem für die eigene innere Haltung zur Welt, auch der moralische Bezugspunkt sicherlich. Und da es in diesen besonderen Ideen und Ausnahme-Erfahrungen der Menschen immer wieder auch um schmerzliche, schuldhafte Erfahrungen geht, liegt es eigentlich nahe, dass gerade auch solche religiösen Inhalte aufgerufen werden, um das zu erklären oder ein rationales Konzept zu finden dafür."
Religiöser Wahn als Form von Ausnahmeerleben
Das Konvolut von Kunstwerken in der der Heidelberger Sammlung von sogenannten Menschen mit psychischen Ausnahme-Erfahrungen in Form einer Schizophrenie umfasst heute über 14 000 Werke. Besonders die über 100 Jahre alten historischen Arbeiten geben einen Einblick in das Kunstschaffen, der von religiösen Wahnideen befallenen Menschen, die viele Jahre, teilweise Jahrzehnte als Anstaltspatienten in Psychiatrien und Nervenheilanstalten außerhalb des etablierten Kunstsystems arbeiteten. Thomas Röske hat Kunstgeschichte und Psychologie studiert. Mit der Kunst psychisch Kranker beschäftigt er sich seit den 70er Jahren. Thomas Röske erklärt das Phänomen dieser schizophrenen Krankheit wie folgt:
"Das, was gewöhnlich als religiöser Wahn bezeichnet wird, ist eine Form von Ausnahmeerleben, die von den Betreffenden in religiöser Weise gedeutet wird. Also es geht zumeist darum, das die Personen glauben, dass sie auserwählt seien, dass sie in die Rolle eines Heiligen oder sogar Gottes oder Christi schlüpfen und als solche mit bestimmten Aufgaben, Lasten aber auch mit Pflichten und mit bestimmten magischen Kräften oftmals ausgestattet sind."
Als herausragenden Künstler dieser religiösen Werkgruppe gilt August Natterer, der 1869 bei Ravensburg geboren wurde und 1933 in der Privat-Heilanstalt St. Vincenz Rottenmünster bei Rottweil starb. Natterer – ein Elektromechaniker und Unternehmer – überschreibt seine visionären Bilder zum Beispiel mit dem Titel:"zur Vollendung der Erlösung von Gott offenbart". Thomas Röske erklärt den Ausgangspunkt für Natterers Kunst:
"Der am 1. April 1907 oberhalb der Kaserne von Stuttgart eine Vision gesehen hat. Über 10.000 Bilder, die sich ineinander abgewechselt haben innerhalb einer halben Stunde, erzählt er. Und er sieht das als eine Offenbarung an. Ein Teil des Jüngsten Gerichts, der Christus vorenthalten wurde, ist ihm offenbart worden. Das zeigt insbesondere dieses sehr schöne beeindruckende Blatt mit den beiden Augen Natterers: 'Meine Augen zur Zeit der Erscheinung', wo Sie in den Pupillen zum einen das Kreuz, zum anderen die Dornenkrone gespiegelt sehen. Mit der Vision empfängt er die Position Christi oder vielleicht sogar einer Persönlichkeit, die über Christus steht, denn es ist ja ein Teil, der Christus vorenthalten wurde, den er da sieht."
1917 die Apokalypse angekündigt
Die Kuratorin der Ausstellung, Frau Zaccharias, verweist auf ein Bild Natterers, das auf den Papst Bezug nimmt:
"Und dieses hier nun zeigt den "Antipapst – der unsichtbare Feind Gottes in den Wolken" heißt es, das hat er darunter geschrieben. Und was wir sehen ist eine paradoxe Situation. Ein Pfeife, die selbst aus Rauch besteht und daraus nun wiederum erwächst eine Figur von der man denkt, dass sie eine Tiara auf dem Kopf hat. Wir sehen sie von hinten. Bei genauerem Hinschauen merkt man nun das diese Kopfbedeckung eigentlich eine Rakete ist."
Ähnlich wie August Natterer hatte auch Alois Dallmayr eine Vision. Seine Mutter berichtete den Ärzten, dass er religiöse Bücher las und sich lange in der Kirche anständig benahm.
"Aber erst in den letzten Monaten fing er an, in der Kirche den Segen zu erteilen und Ansprachen zu halten."
1917 kündigte er die nahe Apokalypse dank seiner geistigen, telephatischen Kräfte an, die von Gott kämen. Neben dem Zeichnen spielte er auf dem Klavier "dröhnende Trauermärsche" und sang "nach selbstverfassten unsinnigen Texten Choräle". Auf dem Blatt "Dr. Dallmayr mit seinen Gewissenswaffen" vermerkt er in Ergänzung zur Zeichnung handschriftlich "Dämon", "Untergott" sowie "Heiliger Geist". Kunsthistorikerin Zacharias verweist auf weitere Details:
"Hier erscheint ein ganzes Arsenal von Gegenständen aus der christlichen Ikonographie, wie eben Marterwerkzeuge oder die Schlange, als ein Zeichen der Unendlichkeit, hier oben das göttliche Auge. Es geht einfach darum, dass bestimmte religiöse Bilder, die es schon immer gibt, benutzt und dann weiter ausgebaut werden."
Satan als das Böse, das Bedrohende
Die einzigen Skulpturen in der Ausstellung stammen alle von Carl Genzel. Es sind zum Beispiel Jesus- oder Teufelsdarstellungen. Ausstellungsmacherin Zaccharias:
"Es sind drei sogenannte Kopffüssler. Der mittlere stellt dar Jesus auf dem Schiffe. Wir kennen aus der Kunstgeschichte solche Darstellungen auch aus dem Mittelalter. Ich denke es sind tatsächlich gewisse Urformen, auf die man als ungelernter Künstler kommt, genauso wie Kinder auch - nur Bäuche zu malen und direkt die Füße dran, wo bestimmte Körperteile fehlen. Den Satan als das Böse, als das radikal andere, als das Bedrohende."
Selbst in den Motiven des die Ausstellung betitelnden Werkes "Das Wunder in der Schuheinlegesohle" von Carl Langer kann der Kunsthistoriker Röske Religiöses finden:
"Die Schuheinlegesohlenbilder von Carl Langer, der in den Schweißflecken seiner Schuheinlegesohle Bilder gesehen hat, die er für eine Offenbarung hielt. Das klingt natürlich erst einmal nach einer ganz typisch verrückten Idee, aber dieses Vera Icon hat natürlich Vorbilder im Schweißtuch der Veronika oder im Turiner Grabtuch, nur das es hier halt sein Schweiß ist, der die Bilder schafft. Der qua Bildschaffung auch schon zu etwas Göttlichem erklärt wird."
In unserer heutigen Zeit gibt es hierzulande weniger religiös motivierte Werke von psychisch Kranken. Den Wandel begründet Thomas Röske so:
"Wenn sie Psychiater fragen, es gibt kaum noch religiösen Wahn, oder das, was man als solchen bezeichnet hat. Heute gibt es halt andere Dinge, die Leute fühlen sich durch andere Mächte beeinflusst oder glauben, dass der CIA sie bespitzelt oder dass sie in dem Namen anderer Mächte handeln, da hat die christliche Kirche nicht mehr das Monopol."

Die Sammlung Prinzhorn: Die Sonderausstellung "Das Wunder in der Schuheinlegesohle" ist noch bis zum 16. August zu sehen.