Ausstellung im Museum Böttcherstaße Bremen

"Bitte nicht berühren!"

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Eine blonde Frau mit blauen Augen presst ihr Gesicht gegen eine unsichtbare Scheibe. Ihre Nase und Mund sind plattgedrückt, ihre Augen weit aufgerissen.
Nähe ist unmöglich: So wie diese junge Frau fühlen sich viele während der Coronapandemie. © Pipilotti Rist
Von Anette Schneider · 18.09.2020
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Die Coronapandemie hat unser Verhältnis zu Nähe verändert. Wir zucken zusammen, wenn wir Berührungen beobachten. Die Bremer Museen Böttcherstraße haben daraus eine Ausstellung erdacht. Sie blicken auf menschliche Nähe in 700 Jahren Kunstgeschichte.
Seit Mitte September zeigt der Museumsverbund "Berührend. Annäherung an ein menschliches Bedürfnis". Für Museumsleiter Frank Schmidt eine Ausstellung, die mit Corona und dem Shutdown der Museen ins Leben gerufen wurde.
"Das war im März, wir hatten die Museen geschlossen. Ich bin durch unsere Sammlungen gegangen und mir fielen plötzlich Bilder auf, wo Menschen sich berühren, sich küssen, sich umarmen", erzählt er.
Was als kleine Ausstellung geplant war, wuchs sich in nur wenigen Monaten zu einem großen Projekt mit Kunstwerken aus 700 Jahren aus. Auf drei Stockwerken führen Skulpturen, Gemälde, Fotografien und Videos nun vor Augen, wie allgegenwärtig das Motiv der Berührung in der Kunst ist, wie Künstlerinnen und Künstler damit seit Jahrhunderten von Fürsorge, Liebe und Zärtlichkeit erzählen, aber auch von Schmerz, Leid und Gewalt.

Unsere Vorstellung von Nähe seit Corona

Und gleich die erste Arbeit macht schmerzhaft bewusst, wie sehr sich mittlerweile die Vorstellung von Nähe durch Corona verändert hat: Quer zum Eingang steht eine zwei Meter 20 breite Fotowand von Thomas Struth. Sie zeigt einen Saal der Vatikanischen Museen, vollgequetscht mit Besuchern. Unwillkürlich zuckt man zusammen.
Erst wenn man die Wand umrundet hat, steht man dann vor einer ganzen Reihe des wohl ältesten und innigsten Berührungsmotives: Mutter-Kind-Darstellungen, von einem über 500 Jahre alten Maria-Bildnis mit dem Jesuskind bis zu einem leuchtend expressionistischen Mutter-Kind-Paar von Max Pechstein.
"Wenn man mal davon abstrahiert, dass es Maria ist", so Schmidt, "dann ist es einfach eine Mutter mit ihrem Kind, die einander zugewandt sind. Dann merkt man, dass das unterschiedliche Zeiten sind, unterschiedliche Techniken und künstlerische Auffassungen. Aber das Urthema ist gleichgeblieben: die Beziehung von Mutter und Kind."
Man trifft auf Lucas Cranachs "Schmerzensmann", der sich in die Wunden greift und den Betrachter zum Mitleiden auffordert. Auf eine Grablegung, in der sich die Trauernden gegenseitig Halt geben. Und Erich Heckel zeigt – sehr berührend – wie einander Berühren Erkennen bedeuten kann. Ganz vorsichtig fassen sich seine zwei nebeneinander hockenden Mädchen an den Händen – und leuchten dabei auf, als stünden sie unter Strom.

Berührung als Überlebenselixir

"Wir sagen ja häufig uns 'berührt etwas' oder man 'ist angefasst'. Und das ist natürlich auch eine weitere Meta-Ebene, wenn man so will, der Ausstellung. Wenn wir heute in Museen gehen, steht ja schon am Eingang 'Bitte nicht berühren!', 'Bitte nicht anfassen'. Trotzdem nehmen wir über das Auge die Körperlichkeit wahr."
Doch ohne menschliche Berührung können wir nicht leben – oder nur sehr schlecht. Im Begleitheft zur Ausstellung schreiben Experten darüber aus neurologischer, soziologischer und pflegerischer Sicht. Gibt es überhaupt noch wirkliche Nähe angesichts inflationär-exibitionistisch vorgeführter "Zärtlichkeiten"?
Cornelia Schleime scheint da skeptisch. Ihr in expressiver Malweise auf zwei Metern Breite präsentierter, hollywoodmäßiger Kuss wirkt jedenfalls ziemlich widerlich. Melanie Machant enthüllt dagegen in einem kleinen Film, wie intim das Küssen noch immer empfunden wird. Die Leute, die sie auf der Straße um einen Kuss bat, schreckten meistens davor zurück.

Ungewollte Berührungen

Um ungewollte Berührungen und Übergriffe geht es im 1. Stock des Museums. Im Zentrum: Gewalt gegen Frauen. Kaum eine Künstlerin entlarvte die so drastisch wie Valie Export in ihrem Tapp- und Tastkino von 1967. Einen Schuhkarton mit Vorhang vor dem Busen, lud sie Passanten in München ein, ihr an die nackte Brust zu fassen. So zerrte sie ans Tageslicht, was das normale Kino im Dunkel lässt: die Gesichter der Männer. Ihr Feixen. Ihr hirnloses Zugreifen.
Gleich neben den Film hängte Frank Schmidt ein 350 Jahre altes Gemälde der nackten Susanna im Bade, die von zwei geilen Alten grob angegrabscht wird.
"Es ist genau die #MeToo-Debatte", sagt Museumsleiter Schmidt: "Da sind zwei Mächtige – es sind Richter – zwei mächtige, weiße Männer, die sehen sie baden, berühren sie und möchten sie vergewaltigen. Und sagen: 'Wenn du das nicht machst, dann klagen wir dich an und sagen, du hast uns verführt!'."
Leicht hätte die Ausstellung eine reine Ansammlung von "Berührungs-Darstellungen" werden können. Doch die kluge, konzentrierte Auswahl der Kunstwerke katapultiert einen immer wieder schmerzhaft ins Hier und Jetzt. Im letzten Raum scheinen die Betrachtenden dann inmitten einer düsteren Zukunftsvision zu stehen: zwischen elf mannshohen Baumstämmen, die der Bildhauer Stephan Balkenhol mit kleinen, tanzenden Paaren krönte. Doch Zugewandtheit, Nähe sucht man bei ihnen vergeblich. Alle agieren isoliert voneinander. Alle starren aneinander vorbei. Alle halten Distanz. Alle wirken verloren und leer – wie Zombies.

"Berührend. Annäherung an ein wesentliches Bedürfnis".
Bis 24. Januar 2021 in den Museen Böttcherstraße in Bremen.

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