Ausstellung "Der Wolf zwischen Mythos und Märchen"

Gejagt, gehasst, gefürchtet

Adolphe François Pannemaker (1822–1900),Rotkäppchen (nach Gustave Doré), 1862, Lithographie auf Velin
Adolphe François Pannemaker (1822–1900),Rotkäppchen (nach Gustave Doré), 1862, Lithographie auf Velin © Wallraf-Richartz-Museum Köln
Thomas Ketelsen im Gespräch mit Dieter Kassel · 01.02.2019
Vom komplizierten Verhältnis zwischen Mensch und Wolf erzählt eine Ausstellung, die seit 1. Februar im Kölner Wallraf-Richartz-Museum zu sehen ist. Mehr als 30 Kunstwerke zeigen den Wolf als ein Tier, das keineswegs immer böse ist, sagt Kurator Thomas Ketelsen.
Dieter Kassel: Der Wolf als Gefahr für Mensch und andere Tiere, das wird in Deutschland jetzt gerade wieder sehr kontrovers diskutiert. Gestern haben die Behörden in Schleswig-Holstein sogar den Abschuss eines sogenannten Problemwolfs genehmigt, und im Kölner Wallraf-Richartz-Museum sind ab heute viele Wölfe zu sehen. "Der Wolf zwischen Mythos und Märchen" heißt die neue Ausstellung, die der Kunsthistoriker und Kurator Thomas Ketelsen mit seinem Team zusammengestellt hat. Herr Ketelsen, schönen guten Morgen!
Thomas Ketelsen: Ja, schönen guten Morgen aus Köln!
Kassel: War denn eigentlich diese Diskussion, die es ja seit Jahren wieder in Deutschland um Wölfe gibt, einer der Gründe für die Ausstellung, ist die Idee auch daher gekommen?
Ketelsen: Nicht primär. Wir hatten schon vor zwei Jahren so kleinere Gespräche in kleineren Runden über Themenauswahl für mögliche Ausstellungen, und da hat eine Kollegin einfach gesagt, lass uns doch mal was zum Wolf machen. Ich hab das so ein bisschen abgefedert, wollte mich da eigentlich nicht ranmachen, habe dann aber eben durch die politische Diskussion über das Tier, das mir dann auch so gegenwärtig wurde, gedacht, das könnte durchaus ein Thema sein, auch für eine grafische Sammlung in einem Museum heute.

Der Wolf hat eine sexuelle Konnotation

Kassel: Die zentrale Frage, die wir uns jetzt natürlich alle stellen, die Wölfe, die bei Ihnen auf Kunstwerken zu sehen sind, sind die alle böse Wölfe?
Ketelsen: Nein, sind sie eben nicht. Sogar schon im Märchen relativiert sich das interessanterweise, wenn man die Grimm’schen Märchen liest, von denen wir ja alle ausgehen – "Rotkäppchen" und "Der Wolf und die sieben Geißlein". Er ist natürlich das gefräßige Tier, was die sieben Geißlein verschlingt, aber er ist auch wiederum so dumm oder so blöd, legt sich gewissermaßen vollkommen gesättigt ins Bett und kann dann natürlich von dem Jäger aufgeschnitten werden, und die unverdauten sieben Geißlein kommen wieder aus seinem Magen heraus. Da gibt es schon im Märchen selber eine gewisse Ambivalenz. Und interessanterweise ist das auch, wenn man das ins Verhältnis setzt zur Geschichte der Wolf-Märchen zum Beispiel aus dem 17., 18. Jahrhundert in Frankreich, gibt es da auch noch eine sexuelle Konnotation. Der Wolf ist immer eigentlich der Werwolf, der Mannwolf, der das Rotkäppchen verführen will. Und auch das ist eine Geschichte, die weggedrängt wird und gewissermaßen dann zu so einer rein, ich will mal sagen, moralischen Sentenz geprägt wird, dass es heißt, Rotkäppchen, verlass deine geraden Wege nicht, sondern geh direkt immer auf das Ziel hinaus.

Die Ausstellung "Der Wolf. Zwischen Mythos und Märchen" ist vom 1. Februar bis zum 28. April 2019 im Kölner Wallraf-Richartz-Museum zu sehen.

Kassel: Das ist auch hochinteressant. Also eine der Abbildungen, das ist ein Werk von Fritz Dinger, ein Künstler, und da sieht man, es bezieht sich auf dieses Märchen "Rotkäppchen und der böse Wolf", und da sieht man halt diese Szene im Wald, das Mädchen und der Wolf begegnen sich. Wir wissen ja alle, wie das ausgeht, aber auf diesem Bild sieht man sofort: Na ja, der Wolf sieht doch sehr freundlich aus, das Mädchen wirkt …
Ketelsen: Das ist eine Art Liebesszene, eine Anmache ist es wohl, wo wir sagen, genau das, was wir gewissermaßen konnotieren mit diesem Begriff oder mit dem Ausdruck Wolf, eigentlich genau unterlaufen wird. Das ist so eine Art Reminiszenz an diese ehemalige oder alte Geschichte, dass der Wolf eigentlich der Verführer ist von Rotkäppchen. Und wenn man sich eine weitere Illustration aus der Ausstellung anschaut, Gustav Doré, der eben wieder diese alten Wolfsmärchen illustriert, liegen Rotkäppchen und der Wolf gemeinsam im Bett, auch auf eine ganz elegante, lustige Art und Weise. Aber es geht immer in dem Sinne ursprünglich um die Verführung, letztlich auch um die Vergewaltigung dann, das muss man schon auch so sagen. Und das relativiert aber unser gewissermaßen eingeprägtes Bild vom Wolf als dieses böse Tier, fressende Tier, der – wie ich aber schon sagte – so blöd ist, dass er immer einschläft und dem auch das Rotkäppchen wieder aus seinem Bauch herausgeschnitten werden kann.

Naturkundliches Interesse am Wolf

Kassel: Jetzt wird der ein oder andere sagen, Fritz Dinger kenne ich nicht. Das ist kein sehr bekannter Künstler, aber es gibt in Ihrer Ausstellung auch Werke von Künstlern wie Corinth, Raffael, Rubens zum Beispiel, also sehr, sehr berühmte Maler. Was hat denn diese und auch andere offenbar immer wieder so sehr an diesem Thema Wolf fasziniert?
Ketelsen: Das sind zwei Aspekte: Einerseits ist die Druckgrafik immer daran interessiert, literarische Werke zu illustrieren, und daher gibt es gewissermaßen Bibelillustrationen, von Raffael auch natürlich oder seine Bildillustrationen, die dann umgesetzt worden sind in den Stich. Die Ovid’schen Metamorphose sind illustriert worden, die Fabelwelt, die ganzen Fabeln des 17., 18. Jahrhunderts, die ist illustriert worden. Das ist das eine durchgehende Interesse, wo gewissermaßen die Grafik eine dienstleistende Funktion hat. Die illustriert das, was der Text vorgibt an Geschichte. Auf der anderen Seite aber entwickelt sich seit dem 16., 17. Jahrhundert so was wie ein naturkundliches Interesse, wo es darum geht, den Wolf als Tier, als Tier in der Natur zu erfassen. Da gibt es dann eben gewissermaßen naturkundliche Sichtweisen, dass man versucht, die Anatomie, die Physiognomie des Wolfes zu erwägen. Das sind so zwei Stränge, die eben gewissermaßen parallel laufen in der Illustrationsgeschichte oder in der Motivgeschichte des Wolfes im 17., 18. bis ins 19. Jahrhundert.
Kassel: Aber spürt man auch bei den eher naturwissenschaftlich gemalten Darstellungen noch die Angst vorm Wolf? Ich meine, damals war er für einfach die Bevölkerung eine Bedrohung – natürlich für Bauern, die Tiere hatten, aber auch ganz allgemein. Spürt man das oder wird das eher schon wissenschaftlich sachlich dargestellt?
Ketelsen: Man spürt es immer noch, weil es zum Beispiel eine Eindringlichkeit … Wir haben von Hans Ridinger einen wunderbaren Stich, wo es darum geht, Wolfsfallen aufzustellen. Das ist gewissermaßen ein großes Unterfangen. Heute geht es um die Höhe der Zäune, die die Schafe schützt vor dem Wolf – 1,20 Meter habe ich gelesen –, früher hat man Wolfsfallen aufgestellt. Und das wird mit einer Akribie beschrieben, wie das auszuheben ist. Und gewissermaßen diese Intensität der Beschreibung, wie man den Wolf fangen und dann auch töten kann, zeigt eigentlich wiederum indirekt, welche Gefahr oder jedenfalls welche suggerierte Gefahr der Wolf damals gebildet hat.
Marcus de Bye (um 1639 – nach 1688) Wolf in Dreiviertelansicht, (nach Paulus Potter), 1659
Die Verlorenheit des Wolfes: Marcus de Bye (um 1639 – nach 1688), Wolf in Dreiviertelansicht, (nach Paulus Potter), 1659© Wallraf-Richartz-Museum Köln
Kassel: In den Mythen, in den Märchen war der Wolf nie weg, aber in den Wäldern, zumindest in Mitteleuropa, ist er dann irgendwann für eine ganze Weile verschwunden. Irgendwann im 19. Jahrhundert ging es los, und im 20. gab es dann bei uns und auch in vielen anderen Ländern keine Wölfe mehr. Hatte das Auswirkungen auf die Kunst, also ist er auch aus der Kunst teilweise verschwunden?
Ketelsen: Ja, ich glaube in dem Sinne, dass in dem Moment, wo der Wolf weg war, die Idee von Natur wieder mit ins Spiel kam. Es ist ja nicht nur der Wolf in dem Sinne ein Symptom gewesen für das, was sich gewissermaßen aus der Gesellschaft zurückgezogen hat, plötzlich nicht mehr da war: die Natur. Und in dem Moment, wo man wieder einen positiven Begriff auch von Natur bekommen hat, in dem Sinne, dass das etwas Schützenswertes ist für den Menschen, gewinnen natürlich auch dann die Tiere der Natur wieder eine ganz bestimmte besondere Bedeutung. Ich glaube, darüber kommt der Wolf wieder gewissermaßen in seiner Animalität und in seiner Wildnis – das sind natürlich auch wieder Phantasmagorien –, aber kriegt da eine ganz bestimmte Bedeutung und wird dann plötzlich wieder als Sinnbild für das, was er einsteht, was es eigentlich nicht mehr gibt, nämlich für tatsächlich eine ungebrochene Wildnis.

Blick auf die Gebrochenheit der Existenz

Kassel: Jetzt kommt die Frage, die Kuratoren im Allgemeinen nicht mögen, ist mir aber egal: Gibt es in Ihrer Ausstellung ein Bild – von wem, welcher Art auch immer –, das Sie besonders beeindruckt in dem Sinne, dass Sie sagen, da ist für mich das Wesen des Wolfes in all seinen Facetten am deutlichsten erfasst?
Ketelsen: Ja, in so einer gewissen Verlorenheit. Es gibt einen niederländischen Künstler, Paulus Potter, der bekannt ist durch seine Darstellungen von Bullen, von Stieren, der hat eine kleine Stichserie gemacht mit sieben Darstellungen des Wolfes. Auf diesen kleinen Radierungen, die nicht mehr als 8 mal 10 Zentimeter groß sind, sind es Einzelbildnisse, Einzelportraits von Wölfen, und da kommt eine gewisse Verlorenheit zum Ausdruck. Also er versucht, dieses Tier naturwissenschaftlich zu beschreiben, aber in dem Ausdruck, mit eingezogenem Schwanz und mit eingeknickten Ohren, ist mir so etwas wie die Gebrochenheit von Existenz bewusst geworden. Und das fand ich eigentlich ein unheimlich schönes Bild, und wir haben es auch als Cover eben für unseren Katalog auch genommen.
Kassel: Der Kunsthistoriker Thomas Ketelsen, Kurator der Ausstellung "Der Wolf zwischen Mythos und Märchen", die ab heute im Wallraf-Richartz-Museum in Köln zu sehen ist, und zwar bis zum 28. April. Herr Ketelsen, herzlichen Dank für das Gespräch!
Ketelsen: Ich danke auch, Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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