Aussteiger

Herr der Insel

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Vor Anker liegende Yachten im La Maddalena-Archipel, zu dem auch die Isola di Budelli gehört. © picture alliance / dpa
Von Ulf Lüdeke  · 23.07.2014
Gescheitert in der Gesellschaft, glücklich im Robinson-Paradies: Mauro Morandi, Ex-Sportlehrer aus Modena, erlitt vor 25 Jahren Schiffbruch und fand im Mittelmeer eine einsame Insel, die mit Hilfe von Ernst Jünger zu seinem Nirwana wurde.
Mauro Morandi erinnert sich noch genau, wie er seinen Segler 1989 an einem heißen Tag Ende Juni vor diese Bucht der ihm bis dahin völlig unbekannten Isola di Budelli steuert, an dessen Ufer er gerade steht. Sämtliches Hab und Gut gerade gegen einen Katamaran getauscht, war er doch eben erst von der toskanischen Küste in See gestochen. Und blickt nun eine Tagestour entfernt am Osteingang der Meerenge zwischen Sardinien und Korsika auf das, was er am anderen Ende der Welt suchen wollte.
"Das Schicksal hat mich an diesen einzigen Strand im Mittelmeer geführt, der genauso aussieht wie die Strände von Polynesien. Er ist der einzige, der aus fast genau dem gleichen Material besteht, aus Muschel- und Korallenresten. Kalziumkarbonat!"
Kalziumkarbonat, von der Sonne weiß wie Schnee gebleicht, verführerisch gleißend über makellosem Azur: Der blauäugige Morandi, damals 50, schmeißt sofort den Anker ins Wasser, springt hinterher und schwimmt aufgedreht zum Strand. Wo gleich der erste Mensch, dem er begegnet, sein Leben auf den Kopf stellt.
Spontan den Job des Inselhüters übernommen
"Das Schicksal wollte es, dass ich hier zwei Tage vor jenem Moment ankam, als der alte Inselwächter gerade seine Klamotten packte, um zu verschwinden. Seine Frau, sagte er mir, hielt es nicht mehr aus, zu einsam, zu chaotisch. Ich habe sofort den Verwalter der Privatinsel kontaktiert. Und zwei Tage später den Job übernommen."
Budelli, ein Granitbuckel im Maddalena-Archipel, winziger als Helgoland, aber doppelt so hoch, ist überzogen von einem Teppich ewiggrüner Rosmarin- und Mastixbüsche, die je nach Jahreszeit mit wilden Orchideen, Narzissen und Meerlilien gefleckt sind und am Strand mit der See um die Wette duften. Mauro Morandi kennt hier jeden Busch - seit einem Vierteljahrhundert.
Im Sommer hält er den Besuchern schulbuchmäßige Vorträge über Naturschutz und erläutert, warum sie nicht auf seinen Strand dürfen, der spiaggia rosa heißt, Rosa Strand, was er einem einzelligen Krustentier verdankt, das zwar überall im Mittelmeer lebt, aber nur hier so üppig an Land gespült wird, dass das Ufer oft wirklich rosa schimmert.
Was aber macht ein Inselwächter außer Fischen und Fisch essen eigentlich im touristenfreien Winter?
"Ich arbeite den ganzen Tag und falle abends todmüde ins Bett. Fahre mit dem Boot raus, um Brennholz an den Stränden zu sammeln, hacke Holz, um mich zu wärmen und suche Material, das ich im Sommer bearbeiten kann."
Im Grunde hat er überhaupt keine Zeit, sagt der drahtig untersetzte 74-Jährige, der wie der zopflose, kleine Bruder von Country-King Willie Nelson aussieht. Er hat sich auf der überdachten Veranda mit Meerblick in einen selbstgezimmerten Wacholdersessel gepflanzt und schnitzt einen Brieföffner aus Wacholder, den er mit weiteren Handwerksarbeiten im Sommer an Besucher verkauft.
Der Schiffbruch, der Morandi an den Strand von Budelli spült, nimmt seinen Anfang vor 35 Jahren in einer Schule in Modena. Er gerät mit Eltern und Lehrern aneinander, weil er neben Turnunterricht mit motivierender, aber im Lehrplan nicht vorgesehener Musik den Schülern auch noch die Politik der italienischen APO erläutert und erklärt, wie sich bei Bedarf Eltern umerziehen lassen.
"Ich wollte nur, dass sie kritischere Menschen werden. Immer nur 'nein' sagen, wenn du wütend bist... Das muss man im Nachhinein doch auch erklären, oder?"
Einsamkeit als Folge der Angst vor uns selbst
Oft wird er gefragt, wie er im Winter die Einsamkeit erträgt, erzählt der Teilzeit-Robinson, als er nachmittags sein Schlauchboot zum Meer schiebt, um einen Motor zu testen.
"Einsamkeit ist doch nichts weiter als eine Folge der Angst vor uns selbst!"
Der Angst, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Doch abgesehen davon, dass die Mutterinsel Sardinien nur acht Kilometer entfernt ist, er manchmal TV oder Radio anstellt, täglich mit der Freundin telefoniert und ab und an mit seinen drei Töchtern, wartet immer einer seiner treuesten Freunde brav und ordentlich aufgestellt im Haus auf ihn, sagt Morandi. Schopenhauer etwa, Nietzsche, Freud, Pessoa, Musil, Kraus. Vor allem aber Ernst Jünger, dessen vorletzter Roman 'Eumeswil' so etwas wie Morandis Bibel geworden ist. Er erzählt die Geschichte eines Anarchen, der positiven Version des Anarchisten, der das System nicht bekämpft.
"Der Anarch ist der, der zwar innerhalb eines Machtgefüges bleibt, aber seine Individualität und Freiheit um jeden Preis erhält, indem er sich nicht von der Macht instrumentalisieren lässt."
Genau das, was er auf Budelli versucht, sagt Morandi und bemüht sich, mit kräftigen Zügen am Starterseil den selbst reparierten Außenborder in Gang zu bringen.
Lebensziel alt werden
Sackten im Sommer 1989, als Morandi auf der Insel ankam, noch pro Tag 3000 Besucher Sand und Krustentiere tütenweise ein, sperrte 1999 der Naturpark Strand und Bucht komplett. Heute kommen noch etwa 1000 Gäste - pro Sommer.
"Ich erkläre allen die gleiche Geschichte und hoffe, dass sie bei zehn Prozent hängen bleibt und sie sie weitererzählen."
Seit 25 Jahren setzt er sich jeden Abend mit einer Zigarette auf dem Baumstumpf, der direkt am Rosa Strand liegt, und lässt zwischen Meer und Sternen den Tag Revue passieren. Auf Budelli, sagt er, spürt er täglich, dass er lebt. Und dass er über 100 wird.
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