"Außenpolitik unter Wilhelm II. war ein Unglück für Deutschland"

Fritz Stern im Gespräch mit Joachim Scholl · 17.11.2011
Vor 50 Jahren erlebte der Historiker Fritz Stern als junger Professor den ersten Historikerstreit der Bundesrepublik. Dabei ging es um Fritz Fischer und die Kontroverse um sein Buch "Der Griff nach der Weltmacht". Das sei keine wissenschaftliche, sondern eine politische Debatte gewesen.
Winfried Sträter erinnert an die Fischer-Kontroverse, die nicht nur in gelehrten Zirkeln geführt wurde, sondern in der breiten medialen Öffentlichkeit.

Joachim Scholl: Winfried Sträter über die Kontroverse um Fritz Fischer und sein Buch "Griff nach der Weltmacht". Am Telefon in New York ist jetzt Fritz Stern. Guten Morgen!

Fritz Stern: Guten Morgen!

Scholl: Dieser Vortrag, Herr Stern, den sie 1964 an der Freien Universität Berlin hielten, wurde damals vom Magazin "Spiegel" prominent dokumentiert, so hoch schlugen die öffentlichen Wellen schon damals. Was haben Sie, Fritz Stern, damals in dieser Rede gesagt?

Stern: Ich habe versucht, die amerikanische Position zu Fritz Fischers Buch kurz zu erklären, und wir waren erschrocken über die Aggressivität der älteren deutschen Historiker, Zechlin, Ritter und Hubertus und Erdmann, die unter anderem, ich meine, mit reinen ad-hominem-Attacken ein sehr wichtiges Buch versuchten zu Tode zu bringen sozusagen, zum Schweigen zu bringen. In meinem Vortrag habe ich außerdem unterstrichen, dass deutsche Außenpolitik besonders nach 1890 von Angst, Arroganz und Unwissenheit gekennzeichnet war, und dass man einen Krieg besonders mit Frankreich und Russland absolut einkalkuliert hatte.

Scholl: Dieser Historikertag 1964, wie ging es da zu? An was erinnern Sie sich, an die Atmosphäre, an die Stimmung?

Stern: Ungeheuer erregt, und Ritter, Erdmann, glaube ich, Zechlin, machten die größten Vorwürfe über Fischers Buch bei dieser Debatte. Und die die Debatte war sehr erregend. Es waren 1.000 Leute da in dem Auditorium Maximum der FU, der Freien Universität, und es kam dann ziemlich schnell raus - gerade auch, muss ich ganz ehrlich sagen, bei meinem Vortrag am Ende -, dass es sich eigentlich nicht nur oder auch kaum um eine wissenschaftliche, sondern um eine politische Debatte handelte. Das kann ich gut verstehen, ich meine, die alten Historiker - Ritter an erster Stelle - wollten unbedingt die Linie weiter verteidigen, die es gegeben hat, dass Deutschland wie alle anderen Länder sozusagen in den Krieg hineingeschlittert sind und das Deutschland keine besondere Schuld hatte.

Scholl: In Ihrer Rede bezeichnen Sie die Debatte als einen der wichtigsten Momente der deutschen Geschichtswissenschaft in der Nachkriegszeit, also die Kontroverse um Fritz Fischer. Warum hielten Sie die Diskussion für solcherart bedeutend?

Stern: Weil es um den wundesten Punkt sozusagen der neueren deutschen Geschichte ging, und dass Fischer eben - er wurde dann als Nestbeschmutzer bekämpft, und so weiter, weil er diesen wunden Punkt noch mal neu aufgegriffen hat und gezeigt hat, wie aggressiv, wie expansionistisch und imperialistisch einige der Kriegsziele, die sich dann sehr schnell entwickelten, schon im September 1914, wie wichtig die waren.

Und die erbitterte Gegnerschaft von Fischer, was an und für sich - ich meine, wenn ein Historiker eine neue These mit neuen Quellen, übrigens, anbietet, dann denkt man meistens, man würde es sozusagen kritisch wissenschaftlich beurteilen. Aber die Zunft, oder sagen wir mal, die älteren Herren der Zunft, waren eben entrüstet über das, was er gemacht hat, wobei ich hinzufügen muss, dass Fischer in keiner Weise von einer Alleinschuld gesprochen hat. Er hat allerdings von einer erheblichen Schuld gesprochen auf deutscher Seite für den Kriegsausbruch, aber nicht von einer Alleinschuld.

Scholl: Vor 50 Jahren: Fritz Fischer und die Kontroverse um sein Buch "Der Griff nach der Weltmacht". Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Historiker Fritz Stern, Zeuge und Mitstreiter in dieser historischen Debatte. Wie würden Sie sagen, Herr Stern, hat sich denn diese Kontroverse dann auf das westdeutsche Geistesleben, auf die westdeutsche Gesellschaft ausgewirkt? Die Debatte wurde ja nicht nur in gelehrten Zirkeln geführt, sondern in der breiten medialen Öffentlichkeit.

Stern: Ich glaube, es hat einer jüngeren Generation von Historikern, Heinrich August Winkler, Wehler, Kocka und so, glaube ich, irgendwie auch geholfen, weiterhin kontroverse Thesen, neue Thesen aufzuwerfen. Es hat sozusagen eine neue Diskussion ermöglicht, eröffnet. Und die ältere Generation, die entschlossen war - und das ist, glaube ich, auch ein springender Punkt, den ich angesprochen habe -, weiter ein - wie soll ich sagen? - ein positives Bild der deutschen Vergangenheit zu präsentieren, und der Nationalsozialismus war ein Irrweg, war irgendwie, gehörte nicht zur deutschen Geschichte, und die Implikation von Fischer war - und das war eine heikle These von ihm, überspitzt - von einer gewissen Kontinuität in der deutschen Außenpolitik und der deutschen Expansion. Kontinuität vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg. Aber wie gesagt, es kam dann zu einer - würde ich sagen - sehr viel offeneren Diskussion, nicht nur über die Frage des Ersten Weltkrieges, sondern überhaupt über die politische Entwicklung Deutschlands ...

Scholl: Inzwischen, Herr Stern, ist aber auch öffentlich dies bekannt, dass auch Fritz Fischer seine NS-Vergangenheit hatte: in der NDSDAP, der SA mit zum Teil schlimmer antisemitischer Hetze in der Nazizeit. Wie sehen Sie dieses Phänomen, dass er wie etliche andere eine wichtige Rolle bei der Demokratisierung Deutschlands gespielt hat, obwohl man eigentlich eine braune Vergangenheit hatte?

Stern: Das weiß ich, das wusste übrigens auch Ritter und hat es extra nicht - wie Volker Ulrich das neulich in der "Zeit" noch mal beschrieben hat -, wollte es nicht veröffentlichen oder der Öffentlichkeit übergeben, die braune Vergangenheit von Fischer, von der ich nichts wusste, bis viel später. Aber Ritter hatte Angst, dass, wenn man damit anfängt, dass dann Erdmanns Vergangenheit und die Vergangenheit andere älterer Historiker, die auch in die NS-Zeit verstrickt waren, dass die dann auch aufkommt. Also wollte man das vermeiden.

Inwieweit die Tatsache, dass Fritz Fischer selber in der NS-Zeit im Walter-Frank-Institut unter anderem Mitglied der Partei und was weiß ich alles, dass er für eine Zeit lang zumindest tief verstrickt war, wie weit das ihn sozusagen dann selber dazu überzeugt hat, sich mit der deutschen Vergangenheit an ihrem wundesten Punkt auseinanderzusetzen, das kann ich nicht beurteilen. Dass da ein Einfluss, ein psychologischer Einfluss wahrscheinlich, eine Rolle spielt, um mit sich selber ins Reine zu kommen sozusagen, das kann ich mir vorstellen. Aber das kann man nicht beweisen, und ich glaube auch, im Augenblick für uns nicht entscheidend. Entscheidend ist die Quellenlage, und die deutsche Außenpolitik unter Wilhelm II. war ein Unglück für Deutschland und für die Welt, ist gar keine Frage.

Scholl: Vor 50 Jahren erschien "Griff nach der Weltmacht", das Buch des Historikers Fritz Fischer, über die damals resultierende Kontroverse war das Fritz Stern von der Columbia University in New York. Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Stern!

Stern: Ich danke Ihnen!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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