Ausrufung der Republik 1918

Nachgestellter Beleg eines historischen Ereignisses

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Philipp Scheidemann steht an einem Fenster und richtet sich an eine im Bild nicht sichtbare Masse.
Philipp Scheidemann ruft am 9. November 1918 die Republik aus - das Foto wurde allerdings zehn Jahre später nachgestellt. © picture-alliance / akg
Ludger Derenthal im Gespräch mit Timo Grampes · 09.11.2018
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Am 9. November 1918 ruft SPD-Politiker Philipp Scheidemann in Berlin die Republik aus. Die gängigen Fotos von diesem Ereignis entstanden allerdings zehn Jahre später. Kurator Ludger Derenthal erzählt die Geschichte einer historischen Nachstellung.
"Der Kaiser hat abgedankt" heute vor 100 Jahren, am 9. November 1918, trat der stellvertretende SPD-Vorsitzende Philipp Scheidemann auf einen Balkon des Reichstags und rief die Republik aus. Die Fotos, die man von diesem Ereignis meist zu sehen bekommt, entstanden allerdings zehn Jahre später - anlässlich damaliger Gedenkfeiern, erklärt Ludger Derenthal im Deutschlandfunk Kultur. Derenthal ist der Kurator der Ausstellung "100 Jahre Revolution - Berlin 1918/19", die derzeit im Berliner Museum für Fotografie zu sehen ist.
Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann (1865-1939) ruft am 09.11.1918 in Berlin vom Westbalkon des Reichstagsgebäudes die Republik aus.
Das Originalfoto von 1918 zum Vergleich: Philipp Scheidemann ruft am 09.11.1918 vom Westbalkon des Reichstagsgebäudes die Republik aus.© picture alliance / ZB - Stefan Sauer
"Scheidemann wurde gebeten, das Ganze doch noch einmal nachzustellen", erzählt Derentahl. "Da ist er nicht noch einmal auf einen Balkon gegangen, sondern offensichtlich an ein Fenster. Aber da waren die Presseleute dann wirklich präsent. Es gab die 'Wochenschau' und es waren Fotografen da - da entstand dann ein scharfes Foto, darauf kann man Scheidemann auch sehr gut erkennen. Deshalb ist diese Aufnahme dann in späteren Zeiten immer wieder als Beleg dafür genommen worden, wie Scheidemann die Republik ausruft, obwohl es eigentlich nur eine nachgestellte Szene ist."

Wenn die Bildunterschrift sich verselbständigt

Aber wie kam es dazu, dass dieses Foto immer wieder ohne entsprechenden Hinweis in Umlauf gebracht wird? Derenthal glaubt, "das ist der Lauf in den Bilddatenbanken und -redaktionen. Man nimmt das Bild das gut ist und irgendwann schleicht sich so eine falsche Bildlegende ein. Wir haben das auch in unserer eigenen Ausstellung mit den tatsächlich 1918/19 entstandenen Fotografien erleben können: Die Bildreporter damals haben immer wieder die Zettel hinten drauf geklebt, wo sie draufgeschrieben haben, was sie da eigentlich fotografiert haben. Und dann wurde das zu den Redaktionen geschickt und die haben ihre eigenen Bildunterschriften daraus gemacht. Und dann fängt das an, sich zu verselbständigen."
"Bei dem Originalfoto von 1918 war es so, dass damals kein professioneller Fotograf da war. Da war ein Amateurfotograf, Erich Greifer, der das mit einer kleinen Kamera fotografiert hat. Der Kontaktabzug ist gerade einmal fünf Zentimeter hoch. Dann wurde das knapp zwei Wochen später in der 'Berliner Illustrierten' veröffentlicht. Schon da mussten die das Foto vergrößern, damit man überhaupt etwas erkennen konnte. Scheidemann ist auf dem Foto gerade einmal stecknadelkopfgroß."
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