Auslaufmodell Offene Jugendarbeit?

Früher Jugendclub – heute Shopping Mall

30:18 Minuten
Eine schwarz-weiß Aufnahme zeigt Jugendliche in einen zum Jugendclub unfunktionierten Keller des Schlosses von Freiberg.
Jugendliche in einen zum Jugendclub umfunktionierten Keller des Schlosses von Freiberg. © imago images / Rolf Zöllner
Von Ulrike Köppchen · 25.11.2019
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Mit der 68er-Bewegung kamen auch die Jugendclubs. Gedacht waren sie als Orte, wo jungen Menschen Demokratie und Werte vermittelt werden, um schließlich eine bessere Welt zu schaffen. Von diesen Idealen ist heute nicht mehr viel übrig geblieben.
Mai 1972. Nachdem ein vor allem von Jugendlichen besuchtes Lokal geschlossen wird, gehen in Mannheim hunderte von jungen Menschen auf die Straße. Sie protestieren und halten Transparente hoch, auf denen steht: Für ein Jugendzentrum in Selbstverwaltung!
Nicht nur in Mannheim, überall in der alten Bundesrepublik formieren sich Anfang der 70er-Jahre Jugendliche und fordern Jugendzentren, in denen ihnen weder Staat noch Stadt hereinreden. Es ist eine Zeit des Aufbruchs, dem Land geht es gut und schließlich hatte Willy Brandt gerade erst die Losung ausgegeben: "Wir wollen mehr Demokratie wagen!"
Bis tief hinein in die Provinz entstanden in diesen Jahren Initiativgruppen, die die Einrichtung ein Jugendzentrum forderten. Getragen wurden sie vor allem von männlichen Gymnasiasten, die ganz im Geist der 68er-Bewegung handelten.
Bisher war wenig von der Geschichte dieser Jugendzentrumsbewegung bekannt. Dass sie jetzt einem größeren Publikum zugänglich wird, ist einem Mannheimer Studenten zu verdanken:
"Meine ursprüngliche Idee war, einen Film über dieses Jugendzentrum hier in Mannheim zu machen, und erst über die Recherche bin ich darauf gestoßen, dass es eine ganze Bewegung war, und über diese Information habe ich immer mehr gesammelt und nach und nach Interviews geführt, wie so ein Puzzle zusammengefügt."
Tobias Frindt studiert Kommunikationsdesign und war jahrelang selbst in einem Jugendzentrum in Mannheim aktiv. Was ursprünglich als Bachelorarbeit geplant war, wurde ein eineinhalbstündiger Dokumentarfilm: "Freie Räume", der vor ein paar Monaten fertig geworden und jetzt in Programmkinos zu sehen ist. Frindt hat Aktivisten der Jugendzentrumsbewegung befragt und ihre Aussagen mit Filmmaterial aus Archiven montiert. Dabei herausgekommen ist das Porträt einer politisierten Jugendgeneration, die gegen den Mief der damaligen Bundesrepublik aufbegehrt.
"Die wollten eigentlich frei sein…Wir hatten ja Fernsehen. Wir haben ja gesehen, wie die aussahen, die aus Vietnam zurückkamen mit den Plakaten 'Make Love not War'. Ja, das wollen wir auch so haben."

"Wir haben von der Stadt gefordert: Wir wollen Räume! Wir wollen Geld und wir wollen keine Einmischung! Das war natürlich erstmal ein Novum. Das konnte sich von den Verantwortlichen erstmal keiner vorstellen, dass man so einer wilden Horde Geld in die Hand gibt, Räume und keine Einmischung."


Selbstverwaltung? Für viele Lokalpolitiker, die sich mit den Forderungen der Jugendlichen konfrontiert sehen, ein Fremdwort. Jugendarbeit war in Deutschland bis dahin Verbands- und Vereinssache. Ein Feld für Parteien, Pfadfinder, Arbeitervereine oder Kirchen.
Pfadfinder des CVJM lernen in den 50er-Jahren in einem achtwöchigen Kurs kochen.
Jugendarbeit in den 50ern: Pfadfinder des CVJM lernen in Eßlingen in einem achtwöchigen Kurs kochen. © picture alliance / dpa/ A0009
Die klassische Idee der Jugendpflege, jungen Menschen sogenannte "sinnvolle" Freizeitbeschäftigung zu bieten und sie, wie es damals hieß, aus dem "Sog der Vergnügungsindustrie" zu befreien, fanden immer weniger Jugendliche attraktiv. Sie wollten eine andere Gesellschaft, frei von Zwängen und Autoritäten.
Die Forderung der Jugendlichen wurde durchaus erhört: Von Flensburg bis München entstanden noch im Laufe der 70er-Jahre mehrere hundert Jugendzentren. Und man nahm die Idee der Selbstverwaltung ernst. So ernst, dass manche dieser Einrichtungen nicht einmal Sozialarbeiter haben wollten, sondern alles allein machten. Für die Städte war das auch insofern attraktiv, als es weniger kostete. Die Praxis zeigte allerdings recht schnell, dass viele Zentren mit der Selbstverwaltung überfordert waren, sagt Tobias Frindt:
"Die gar keine Sozialarbeiter hatten, die sind dann häufig auch gescheitert oder die sind dann auch von der Stadt wieder geschlossen worden, und die Jugendzentren, die einen hauptamtlichen oder einen von der Stadt eingesetzten hatten, manchmal auch selbst gewählt, die haben sich dann eher zu einem normalen städtischen Jugendzentrum entwickelt, als dann die Phase vorbei war, wo die Jugendlichen unbedingt ein selbstverwaltetes Jugendzentrum haben wollten."
Als im weiteren Verlauf auch zunehmend Jugendliche aus unteren sozialen Schichten in die Zentren kamen, die kein Interesse an politischer Aktion hatten, sondern einfach Musik hören, feiern oder Alkohol trinken wollten, kam es zu Konflikten. Die Aktivisten der Gründungsphase, häufig Gymnasiasten, zogen sich immer mehr zurück. Ab Mitte der 70er-Jahre wurden viele der selbstverwalteten Jugendzentren aufgelöst, geschlossen oder von der Stadt übernommen.

Jugendzentren sind heute in Deutschland Normalität

Heute, knapp 50 Jahre später, sind Jugendzentren in Deutschland Normalität. Etwa 7000 gibt es dem letzten Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung zufolge. Hinzu kommen mehr als 4000 kleinere Jugendclubs und Jugendheime sowie ein paar hundert kulturpädagogische Zentren, pädagogisch betreute Spielplätze und Jugendbildungsstätten. Ihre Aufgabe ist inzwischen gesetzlich festgeschrieben. Da ist allerdings wenig von Freiheit und Selbstbestimmung und -verwirklichung die Rede, sondern mehr von Bildung, Qualifikation, Beratung bis hin zu Freizeit- und Erholungsangeboten.
Ein Jugendclub in einem kleinen Ort in Brandenburg. Ein kleines, mit Graffiti besprühtes Haus in einem Waldstück neben einem Sportplatz. An der benachbarten Oberschule ist der Unterricht zu Ende und ungefähr ein Dutzend Kinder und Jugendliche sind in den Club gekommen.
Andi: "Wenn ich mittags den Jugendclub aufmache, ist es häufig so, dass Jugendliche schon auf mich warten. Nach einer gewissen Zeit kommen die älteren Jugendlichen, da sind viele Schichtarbeiter dabei und auch sehr viele Arbeitslose, die bleiben dann zum Teil den ganzen Tag, bis wir um 20 Uhr zumachen. Viele kommen auch einfach nur kurz vorbei, um einen Kaffee zu trinken und mir von ihrem Tag zu erzählen…"
Gerade die Älteren, sagt der Jugendclubleiter, besuchen die Einrichtung vor allem, weil sie den persönlichen Kontakt zu ihm suchen. Die Jüngeren hingegen kommen in Grüppchen und beschäftigten sich auch mehr mit den Freizeitangeboten.
Im Billardraum des Jugendclubs haben sich fünf Jungen eingefunden: alle mit Jeans, Hoodie und trotzigen Pubertätsgesichtern.
Hier in der Billard-AG wollen – oder sollen – sie lernen, wie man richtig Billard spielt, auch kompliziert Bälle locht und mit einplant, wo die weiße Kugel nach dem Stoß zum Liegen kommt.
"Es ist eine feste Gruppe, die auch Anwesenheitspflicht hat, dadurch dass es eine AG der Oberschule ist. Es hat eine gewisse Zugwirkung dadurch, Jugendliche aus der Schule, die die Einrichtung noch nicht kennen, in die Einrichtung zu holen, und Billard als solches hat für mich den pädagogischen Wert, dass sich Jugendliche über einen gewissen Zeitraum – die AG ist eine normale Schulstunde, 45 Minuten – konzentrieren müssen, aber mit einer Methode, die ihnen Spaß macht."
Einem der Jungen gelingt ein schwieriger Stoß. Als er ihn wiederholen soll, scheitert er und verliert sofort Lust, Konzentration und Selbstvertrauen. Bei den nächsten Stößen haut er blindlings und mit Gewalt gegen die Billardkugel, die auf dem Tisch herumspringt.
Nicht aufgeben, wenn man einen Fehler gemacht hat, dranbleiben, die Blicke und Sprüche der anderen aushalten – statt Weltrevolution und Demokratieerziehung werden hier kleine Brötchen gebacken und elementare soziale Fähigkeiten trainiert. Die Aktivisten der Jugendzentrumsbewegung der 70er-Jahre wären vermutlich enttäuscht, wenn sie sähen, was aus ihrer großen Idee geworden ist.

Aufbruchstimmung und der Glaube an die Jugend

Wie kaum eine andere Disziplin war die Sozialpädagogik mit der Aufbruchstimmung der späten 60er-Jahre und 70er-Jahre verknüpft. Und damit auch mit einem tiefen Glauben an das Potenzial der Jugend: Wenn man sie sich nur entfalten ließe, würde sie die Gesellschaft demokratisieren und besser machen.

Ulrich Deinet: "Ich komme aus einer Zeit, da waren diese anderen Bereiche absolut unattraktiv. Also, wir hätten uns das nie vorstellen können, und ich kann mir das bis heute auch nicht vorstellen, in den Hilfen zur Erziehung zu arbeiten, obwohl ich das heute insgesamt für einen interessanten Bereich halte."
…sagt Ulrich Deinet, Professor für Sozialpädagogik an der Hochschule Düsseldorf. Auch er hat in den 1970er-Jahren als Offener Jugendarbeiter angefangen – in einer kirchlichen Jugendeinrichtung im Rheinland.
Was das für mich ausgemacht hat, war auch die Freiheit der Inhalte, also mit Kindern und Jugendlichen gemeinsam irgendwelche Inhalte zu finden, das finde ich nach wie vor interessanter, als irgendetwas abzuarbeiten, was man als curriculum bekommt.
Und deshalb wird ja auch… das Thema der gesellschaftlichen Emanzipation kann da in den Mittelpunkt gestellt werden, es muss ja in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit nichts vermittelt werden, wie in anderen Bereichen, nicht nur der Schule, sondern auch in anderen Bereichen der Jugendhilfe.

Heutige Realität im Jugendclub

Zurück im Brandenburger Jugendclub. Auf einer Sitzbank in der grellgrün gestrichenen Küche lümmelt Max. Max heißt eigentlich anders, genauso wie die anderen Jugendlichen und Jugendarbeiter, die in dieser Sendung zu Wort kommen. Der 21-Jährige kommt fast täglich in den Jugendclub – aus Langeweile, wie er sagt. Was soll man hier auf dem Land schon machen in seiner Freizeit?
Max: "Sehr wenig. Da kann man eigentlich nur zu Hause sein, es sei denn, man hat irgendwo eine Möglichkeit, wo hinzukommen, Freunde, Kumpels – und geht dann in den Jugendclub halt."
Um Weltverbesserung geht es hier nicht, sondern um Freizeitgestaltung: Billard, Darts, Kartenspielen. Und noch etwas ist anders, als es sich die Jugendzentrumsbewegten der siebziger Jahre vorgestellt haben.
Andi: "Die Jugendlichen, die die Einrichtung besuchen, sind in der Mehrheit eher rechts."
Unter solchen Bedingungen ist es oft nicht die Aufgabe, Freiheit zu ermöglichen, sondern Grenzen zu setzen. Etwa was die Musik angeht, die im Club gehört werden darf:
Max: "Hier darfst du weder Rechtes hören noch Musik, die fremdenfeindlich ist, und da heutzutage in jedem Rap-Lied, also zu 90 Prozent in jedem Rap-Lied irgendwas Fremdenfeindliches ist oder Frauenfeindliches, das mag ja Andi auch nicht. Ich finde es schade, weil die meisten Jugendlichen hören das heutzutage, und dann sollte man das auch so lassen."
Oder welche Ausdrücke verwendet werden dürfen: "Nigger" oder "Kanake" zum Beispiel sind nicht erlaubt, genauso wenig wie "Du Jude", von den Jugendlichen hier gern benutzt als Wort für Beleidigung und Beschimpfung in allen Situationen.
Max: "Andi hält strikt dagegen, der findet das gar nicht lustig, wenn jemand was Rechtes sagt. Oder Fremdenfeindlichkeit. Also, wenn man hier so ein paar Wörter sagt, dann sagt er: Ey,ey,ey, das heißt nicht so. Ich muss mich da auch ein bisschen zügeln."
Verändert habe es seine Einstellungen nicht, sagt Max:
"Ich bleib bei meiner Meinung. Hier wird auch drüber geredet, auch wenn Andi in der Nähe ist. Und draußen wird weitergeredet, zwar extremer als hier…"
Autorin: "Kannst du denn irgendeinen Sinn dahinter erkennen, dass man nicht "Du Jude" als Schimpfwort sagen kann?"
"Ja, den Sinn dahinter verstehe ich schon. Die Vergangenheit.., wenn man die Geschichte von Deutschland so ein bisschen sich anguckt. Aber ich würde so was nie sagen. Ich bin ganz ehrlich: Ich bin fremdenfeindlich, aber nicht rechts. Ich hab was gegen die Ausländer, aber ich bin nicht rechtsradikal. / Und hast du was gegen Juden? / Nein. Weil, wenn ich was haben würde gegen die, dann würde ich gleich als Nazi abgestempelt und das will ich nicht. Weil, Juden und Deutsche, das ist immer so ein Thema, was ganz empfindlich ist."

"Schindlers Liste" als pädagogische Maßnahme

Als vor einiger Zeit einige Jugendliche direkt vor dem Jugendclub ein Hakenkreuz auf die Straße gemalt hatten, rief der Sozialarbeiter die Polizei.
Max: "Ich hab mich auch gewundert: Warum rufst du jetzt die Polizei? Machst du’s einfach weg – fertig."
Andererseits: Straftat ist Straftat, meint Max, und dann sei das schon richtig so mit der Polizei. Und dass danach im Jugendclub ein Filmnachmittag veranstaltet wurde mit "Schindlers Liste", findet er gut.
Max: "Weil ich glaube nämlich nicht, dass das Rechtsradikale waren, die das gemalt haben. Die wollten einfach cool sein. Die haben ja vorher keine Ahnung gehabt, wie das damals so abgelaufen ist. Und dann haben sie gesehen, wie einer erschossen wurde, weil er nicht arbeiten konnte. Und dann hatten wir noch eine kleine Feedback-Runde und die Reaktion war echt krass gewesen. Weil die gesagt haben: Wie kann das sein, dass der einfach so erschossen wird, der ältere Herr da? Hab ich gesagt: Ist nun damals so gewesen. Wenn du nicht arbeiten konntest, warst du nutzlos für die und wurdest erschossen. Ganz einfach. Das war die Regelung damals."
Es ist irgendwie vieles anders gekommen, als man in den 70ern hoffte. Und von Kapitalismuskritik keine Spur.

Der Reiz von McDonald’s und Shopping-Malls

Ulrich Deinet: "McDonald’s ist die erfolgreichste Jugendeinrichtung in Deutschland, und ich finde es auch phänomenal, dass sich da auf einmal alle Schichten, alle Schulformen bei McDonalds treffen, die sich sonst eher aus dem Weg gehen. Das ist tatsächlich interessant, und das muss eine Mischung sein von dieser Location, vom Angebot. Essen steht da zwar obendrüber, aber nicht unbedingt an erster Stelle. Sie können ihre Gleichaltrigen da treffen und sobald sie alt genug sind, verlassen sie das Schulgelände und gehen lieber zu McDonalds."
Der Pädagoge erforscht, wie Jugendliche sich Sozialräume aneignen – und hat irgendwann festgestellt: Immer mehr junge Menschen verbringen ihre Freizeit in Shopping Malls. Da sitzen sie dann in kleinen Grüppchen auf den Sitzbänken, die Gesichter über ihre Smartphones gebeugt. Oder sie durchstreifen die Läden, probieren Klamotten an, spielen an den Konsolen in den Elektronikmärkten – und manchmal kaufen sie auch etwas. Was finden die daran bloß, fragen sich viele Erwachsene und natürlich ganz besonders die traditionell konsumkritisch eingestellten Jugendarbeiter.
"…es ist nicht nur die bunte Warenwelt, die die Jugendlichen in die Shopping Malls zieht", betont Deinet. "Die sind deshalb attraktiv, weil Jugendliche hier einen Raum finden, der nicht pädagogisiert ist, das möchten sie auch nicht – oder viele möchten das nicht –, das ist ein Raum, wo sie weitgehend ohne die Kontrolle von Erwachsenen unterwegs sind, das ist ein Raum, wo sie sozusagen auf der Hinterbühne der Malls ihre Gleichaltrigengesellschaft, ihre Kommunikation haben können, das finden sie gut und sie haben auch den Eindruck, jedenfalls die, die wir befragt haben, dass sie da willkommen und erwünscht sind."


Vor ein paar Jahren hat Deinet mit seinem Team Jugendliche aus drei Shopping Malls in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg systematisch befragt und dabei zum Beispiel herausgefunden, dass unter ihnen nicht etwa Haupt- oder Realschüler, sondern Gymnasiasten die größte Gruppe ausmachen. Und dass fast drei Viertel der Jugendlichen aus den Einkaufszentren niemals in Jugendclubs oder andere Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit gehen. Viele von ihnen wissen nicht einmal, dass es diese Jugendtreffs gibt.
Ulrich Deinet: "Da muss man weg von der klassischen Einrichtung mit ihrer – sagte man früher – Komm-Struktur, da muss man auch an anderen Orten präsent sein wie zum Beispiel in den Shopping Malls. Wir haben allerdings nur eine Stelle gefunden, wo eine mobile Jugendarbeit in Leonberg bei Stuttgart regelmäßig Angebote in einer Shopping Mall macht."
Das sieht dann so aus:

Deinet: "Die haben zwei Formate, ein Format nennt sich Leo Chill, also Leo von Leonberg oder Leo-Center, so heißt die Mall. Da wird ein Teppich ausgerollt mit Sitzkissen und dann chillt man, und das andere Format heißt Leo Action, da wird wieder dieser Teppich ausgerollt, der sozusagen ein Stück Jugendzentrum in dieser Mall bedeutet, und da wird dann der klassische Kicker oder andere Spiele gespielt."
Wie soll sich die Offene Jugendarbeit zu solchen Herausforderungen verhalten? Soll sie sich anpassen oder soll sie bewusst eine Gegenwelt anbieten: konsumkritisch, links, emanzipatorisch? Oder soll sie sich der Erkenntnis beugen, dass Jugendliche einfach keine Lust mehr haben, die Welt zu verändern.
Keine Lust mehr, die Welt zu verändern?
Jugendliche in den USA mit Smart Phone.
Das Smart Phone hat für viele Jugendliche den Jugendclub ersetzt. © picture alliance / dpa / Sandy Huffaker

Eine neue Generation, die am Gemeinwohl orientiert ist

"Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!"
Klaus Hurrelmann: "Nachdem wir zwei Generationen hatten, die sehr mit sich selbst beschäftigt waren, haben wir jetzt wieder eine Generation, die gemeinwohlorientiert denken und handeln kann, das ist neu."
Meint Deutschlands wohl bekanntester Jugendforscher, der Soziologe und Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann, und denkt dabei nicht nur an die vielen hundert Schülerinnen und Schüler, die jeden Freitag für mehr Klimaschutz auf die Straße gehen. Auch über seine Studierenden an der Hertie-School of Governance, einer teuren Privatuniversität, sagt er: Die wollen die Welt verbessern. Seit fast 20 Jahren gehört Hurrelmann zu den Herausgebern der Shell-Jugendstudie, die alle vier Jahre in einer groß angelegten Repräsentativbefragung die Wünsche, Werte und Befindlichkeiten junger Menschen in Deutschland untersucht.
Hurrelmann: "Die letzte Shell-Jugendstudie zeigt, dass wir drei Gruppen von jungen Leuten haben, wenn man es mal ganz einfach zusammenfasst. Wir haben heute nach langer Zeit wieder eine Gruppe von vielleicht knapp 40 Prozent richtig politisch Interessierten und politisch Engagierten, die auch selbst gestalten wollen. Dann haben wir so eine mittlere Gruppe, da mögen vielleicht noch einmal 40 Prozent dazugehören, die sich nicht besonders politisch interessieren, hier und da mal mitmachen, sehr stark in ihrem eigenen Freizeitbereich unterwegs sind, schulisch einigermaßen durchkommen, und dann eine Gruppe von vielleicht 20 Prozent, die in den Shell-Jugendstudien schon seit vielen Jahren als eine recht problematische Gruppe identifiziert werden muss. Hier ist der Bildungsstand niedrig, die familiäre Unterstützung und Anbindung ist nicht sehr gut…"


Nach dem klassischen Selbstverständnis der Offenen Jugendarbeit wäre gerade die Gruppe der Engagierten deren ideales Klientel. Nur: die haben darauf in der Regel keine Lust.
Hurrelmann: "Es ist eine grundsätzliche Scheu, wenn nicht sogar Abneigung bei jungen Leuten im Grunde aller Bildungsgrade sich irgendwie in einer Institution zu binden. Das spüren die Kirchen, die Gewerkschaften, die Vereine, in den Sportvereinen hält es sich noch einigermaßen, aber auch da muss darauf geachtet werden… Sie möchten frei sein, sie möchten im Idealfall nirgendwo Mitglied sein mit Verpflichtungen, sondern den Rücken frei haben für eigene Disponierungen. Diese Sorge, dass ich in eine Institution komme, die mit ihren Sachzwängen mich einfängt, die ist riesengroß und macht vor der Freizeittätigkeit und der Jugendarbeit keinen Halt."
Demonstration der Bewegung Fridays For Future in Berlin. Demonstrantin mit Schild. 
Demonstration der Bewegung Fridays For Future in Berlin: Knapp 40 Prozent der jungen Menschen seien politisch interessiert und politisch engagiert, laut Shell-Jugendstudie.© imago images/IPON/Stefan Boness

"Ist die Jugendarbeit dann noch zeitgemäß?"

Mark: "Wir leben einfach in Zeiten, wo es so viele Möglichkeiten für Jugendliche gibt, dass der Besuch einer Jugendeinrichtung, überhaupt die Nutzung von Angeboten der Jugendarbeit in keiner Weise mehr selbstverständlich sind. Und trotz meines Wunsches und meiner Leidenschaft, dass das ein ganz wichtiger Bereich ist, der nicht zu vernachlässigen ist, muss man sich die Frage stellen, ob es noch funktioniert, weil ganz klar Besucherzahlen weniger werden, das Interesse einfach nicht so da ist. So selbstkritisch muss man dann schon sein, dass man sich fragt: Ist die Jugendarbeit dann noch zeitgemäß?"
Besucherrückgang, Personalabbau, Projektangebote, die von den Jugendlichen nicht angenommen werden – darüber klagen viele Offene Jugendarbeiter wie Mark, der seit 20 Jahren in Berlin als Streetworker und in einer Jugendeinrichtung arbeitet. Die Offenen Jugendarbeiter bekommen jeden Tag zu spüren, wie sich das Freizeitverhalten der Jugendlichen verändert hat: Wie die virtuellen Räume, in denen sie sich mit ihren Smartphones bewegen, sie so sehr in Beschlag nehmen, dass sie gar nicht mehr nach Freiräumen in der echten Welt suchen. Wie durch den Ausbau der Ganztagsschule viele Jugendliche schlicht keine Zeit mehr haben, nachmittags in den Jugendclub zu gehen. Und wie in andere Bereiche der Kinder- und Jugendarbeit – Kitabetreuung und Schulsozialarbeit – viel Geld gesteckt wird, während die Finanzierung von Offener Kinder- und Jugendarbeit stagniert.
Ist Offene Jugendarbeit also ein Auslaufmodell?
Zumindest fehlt es an Nachwuchs, beklagt Jugendarbeiter Mark – der selbst schon die 50 erreicht hat:
Mark: "Dann ist ganz klar ein wichtiges Feld, was ich bei mir im Bezirk, wo ich arbeite, in Steglitz-Zehlendorf, auch sehe: Dass es ganz klar eine Überalterung auch gibt in der Mitarbeiterschaft von Offener Jugendarbeit. Der Nachwuchs ist ganz dringend gewünscht und muss dringend ausgebildet und auch begeistert werden für diese Arbeit…"

Traumjob Offene Jugendarbeit – wohl eher nicht mehr

Doch auch an den Hochschulen fristet die Offene Jugendarbeit inzwischen ein kümmerliches Dasein. Ulrich Deinet:
Deinet: "Die offene Kinder- und Jugendarbeit hat an Hochschulen, Fachhochschulen lange nicht mehr den Stellenwert, auch aus Sicht der Studierenden, den sie mal hatte. In den 1970er- und 80er-Jahren galt das als ein innovativer Bereich der sozialen Arbeit, wo man noch die Welt verändern konnte, das ist heute überhaupt nicht mehr so. Es gibt nur noch wenige Leute, die aus dem Bereich kommen, es gibt manche Bundesländer, wo man die Professorinnen und Professoren, die einen Bezug zu diesem Feld haben, an einer Hand abzählen kann."
Und so kann man heute an einer deutschen Hochschule Sozialpädagogik studieren, ohne je mit Offener Jugendarbeit zu tun zu bekommen. So ging es zum Beispiel Charlotte, die nach ihrem Abschluss mehr oder weniger in die Offene Jugendarbeit hineinrutschte und einem Jugendclub arbeitete:
Charlotte: "Ich hab relativ schnell gemerkt, dass ich dachte: Oh Gott, das ist ja gar nichts Handfestes. Also, man geht so hin, man macht auf, man begrüßt alle und dann saß ich da ganz oft und dachte, was mach ich denn jetzt?"
In der Offenen Jugendarbeit muss man sich die Inhalte seiner Arbeit suchen, sagt Charlotte. Das findet sie einerseits gut, weil jeder Jugendarbeiter dann auch seine individuellen Stärken in die Arbeit einbringen kann.
Charlotte: "Ich hab mich tatsächlich auf Bewerbungen, Widersprüche, gemeinsames Schreiben von Lebensläufen, darauf hab ich mich gefühlt spezialisiert, weil ich eben nicht gut darin bin zu bespaßen, also, sie zu unterhalten im Sinne von: Wir spielen ne Runde Billard, ich bin mal mit bei dem Playstation-Ding oder ich bin so sportlich begabt, dass ich sage, ich motiviere euch, treibt Sport mit mir oder so."
Charlotte ist inzwischen in die Schulsozialarbeit gewechselt, berät Schüler und Eltern, hilft bei Problemen – und macht die Projekte, die sie in der Offenen Jugendarbeit nicht verwirklichen konnte.
"Ich lasse mich dann einfach überall sehen und mache so die ganz normalen mitmenschlichen Dinge, wie jeden grüßen. Es ist so, dass die mich sehen und ich sehe sie und ich biete so zwei, drei Sachen an und über die Mundpropaganda – mit der kann man ja reden und ich habe gehört… Oder ein Lehrer sagt mal, wenn irgendwas ist, dann kannst du da hingehen. Es ist ein freiwilliges Angebot. Also, zu mir wird kein Jugendlicher geschickt. Auch ich kann niemanden zwingen – die Mitarbeiter der Offenen Jugendarbeit denken oft, ich zwinge… aber ich habe natürlich einen einfacheren Zugang."

Schwierige Arbeit mit Jugendlichen

Vielen Jugendeinrichtungen fehlt es dagegen an Geld und Personal, um attraktive Projekte durchzuführen. Und dann hat sich auch noch die soziale Zusammensetzung der Besucher verändert. Immer häufiger sind Jugendclubs Anlaufstellen für Jugendliche aus unteren sozialen Schichten, viele von ihnen mit Migrationshintergrund.
Andi: "Ich habe Jugendliche in der Einrichtung, die keinen Schulabschluss haben, die über persönliche Beziehungen endlich mal eine Ausbildung bekommen haben und nach einer Woche fliegen sie raus, weil sie dem Ausbilder eine aufs Maul gegeben haben, weil sie es nicht aushalten, dass jemand ihnen in einem etwas strengeren Ton Anweisungen gibt. Auf diese Jugendlichen kann ich über diese Beziehungsarbeit einwirken und kann sie ganz niedrigschwellig in den Cluballtag einbauen, sodass sie fähig sind, sich mit ihren Stärken einzubringen und dass sie auch Kritik von mir annehmen…"
Gerade solche Jugendlichen sind aber schwer zu aktivieren. Sie haben wenig Interesse daran, ihre Umwelt zu gestalten: Oft muss man sie regelrecht überreden, an Mitmachangeboten teilzunehmen.
Bonnie: "Meistens ist es so, dass ich um eins hier bin, bis ich denn die Kinder hole, also bis um drei, und manchmal komme ich auch noch nachmittags her. Falls ich mal Papierkram erledigen muss, was drucken, was schreiben, dann kann ich das hier auch machen."
Bonnie ist 27, eine hübsche, dunkelhaarige Frau, der man nicht ansieht, dass sie bis vor einigen Jahren heroinabhängig war und in der Drogenszene am Bahnhof Zoo in Berlin verkehrte. Als sie schwanger wurde, entschied sie sich dafür, das Kind zu bekommen und mit den Drogen aufzuhören. Mit Erfolg. Aber die Jahre der Drogensucht haben einen Preis: Bonnie hat weder Ausbildung noch Arbeit, ihre Existenz ist prekär.
"Aus meinem Bekanntenkreis kommen alle hierher. Und viele sagen: Hm, seid ihr nicht ein bisschen alt? Ist doch ein Jugendclub und dann sind da nur Ältere. Aber so ist es nicht."
Der Jugendclub ist zu Bonnies zweitem Wohnzimmer geworden. Was sie dort sucht, sind nicht spektakuläre Freizeitangebote, sondern schlichte Aktivitäten wie gemeinsames Kochen – und dass mit dem Jugendarbeiter jemand da ist, der zuhört.
"Er hat immer einen Rat, er ist irgendwie immer da, wenn man ihn braucht, und ich finde, das macht auch einen guten Sozialarbeiter aus, dass er da nicht auf Abstand geht, sondern für jedes Thema hat er eine Antwort."

Jugendclub, ein Ort für Vertrauen und Halt

Für manche Jugendliche sind die Sozialarbeiter in Jugendclubs die einzigen Erwachsenen, denen sie vertrauen. Denn die oft chaotischen Familienverhältnisse bieten keinen Halt, die Schule wird als Ort des Scheiterns wahrgenommen und Einrichtungen wie das Jobcenter als undurchschaubare, feindliche Macht.
Charlotte: "Eine Mutter, die jung Mutter geworden ist, die musste aufstocken. Die musste zum Amt. Und das hat sie alleine nicht getan und da ging es nur darum, dass sie es alleine nicht tut. Bis man dahinter kommt und die sagen ja auch nichts, die haben ja auch ein Schamgefühl, und dann habe ich gesagt: Ich begleite dich, ich werde für dich sprechen, du wirst anwesend sein, wir werden gucken, wie du mit einsteigst, weil sie gesagt hat, sie wird nicht reden. Und es war nachher so, dass ich ihr Kind auf dem Schoß hatte und sie hat alles alleine gemanagt. Also, es geht oft nur um Unterstützung, und wenn man das in der offenen Jugendarbeit verstanden hat, finde ich, so wie ich jetzt Offene Jugendarbeit verstehe, kann man frei und individuell agieren und gucken: Wie helfe ich? Und zusätzlich einmal in der Woche wiederkehrende Projekte und vielleicht drei-, viermal im Jahr Highlights, wobei es muss jetzt nicht knallen und peng! Aber es muss schon unterhaltsam sein für den Jugendlichen."

SprecherIn: Anika Mauer, Ulrich Lipka
Ton: Inge Görgner
Regie: Stefanie Lazai
Redaktion: Martin Hartwig

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