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Matthias Dell
Wo "Gutmenschen" an die Stelle des finsteren Regimes treten

George Orwells Roman "1984" sei heutzutage auch deshalb noch ein Stichwort, weil populäre Publizisten wie Josef Joffe sich für seinen Nachruhm ins Zeug gelegt hätten, meint Matthias Dell. Joffe stelle eine Orwell-Analogie nach der anderen auf - wenn doch nur einmal eine zutreffen würde.

Von Matthias Dell | 28.12.2017
    John Hurt und Richard Burton in einer Szene des Films "1984".
    John Hurt und Richard Burton in einer Szene aus der Verfilmung des Orwell-Romans "1984", auf den Josef Joffe so häufig Bezug nimmt (imago / United Archives International)
    Wo ist Josef Joffe, wenn man ihn mal braucht? Das habe ich mich in den letzten Wochen gefragt. Als ich sehnsüchtig darauf wartete, dass der beliebte Zeit-Herausgeber zu großer Form auflaufen würde, dass seine Stunde nun schlagen würde. Er hatte es doch immer gesagt, und endlich schien alles zusammenzukommen, endlich schien der Prophet der Weltverübelung recht zu behalten mit dem, was er in den letzten Jahren unaufhörlich unbequem niedergeschrieben hatte. Aber dann?
    Josef Joffe, der Herausgeber der "Zeit", bei einer Konferenz der Wochenzeitung am 6.3.2012 im Humboldt Carre in Berlin
    Josef Joffe, der Herausgeber der "Zeit" und fleißiger George Orwell-Zitator (picture-alliance / dpa / Xamax)
    Die Geschichte geht so. Josef Joffe ist - muss man wissen, weiß man als Josef-Joffe-Aficionado natürlich - Fan von George Orwell. Genauer: von George Orwells Roman "1984". Orwell hatte 1948 eine Stalinismus-Parabel veröffentlicht, eine negative Zukunftsvision fürs titelgebende Jahr "1984", die schaurige Illustration eines totalitären sozialistischen Staates.
    Josef Joffe über George Orwell
    Der Roman ist heutzutage auch deshalb noch ein Stichwort, weil populäre Publizisten wie Josef Joffe sich für seinen Nachruhm ins Zeug gelegt haben.
    "Keiner hat Sprache als Waffe der Herrschaft besser 'dekonstruiert' als George Orwell", schrieb Josef Joffe etwa im Januar 2016.
    Ein Jahr später formulierte er: "Keiner hat die Regeln des klaren Denkens besser formuliert als Orwell."
    Und schon 2010 war bei dem bekannten Journalisten zu lesen: "George Orwell hat schon vor 60 Jahren alles zum Thema PC in 1984 gesagt. Neusprech 'wurde entwickelt, um die Vielfalt der Gedanken zu verringern'. Gutdenk war 'orthodoxes Denken', also richtiges im Sinne der Deutungshoheit-Besitzer."
    "Gutdenk" statt "Doppeldenk"?
    Die konservativen Orwell-Philologen, um nicht zu sagen, die Stalinisten unter den Literaturwissenschaftlern, könnten an dieser Stelle das Gesicht verziehen, weil "Gutdenk" ein Begriff ist, den Joffe in die Orwell-Interpretation eingebracht hat. Im Roman ist bekanntlich von "Doppeldenk" die Rede.
    Aber wer wollte hier päpstlicher sein als der Papst, wo es doch um die Vielfalt der Gedanken und Wörter geht? Ein bisschen muss man so einen fast 70 Jahre alten Schinken auch mal entstauben dürfen, und "Gutdenk" passt doch viel besser zu den "Gutmenschen", von denen es heute nur so wimmelt in journalistischen Texten, von denen aber der gute, alte Orwell seinerzeit ja noch gar nichts wissen konnte.
    Porträt von Matthias Dell
    Ob @mediasres-Kolumnist Matthias Dell schon mal eine George-Orwell-Analogie aufgestellt hat, ist der Redaktion nicht bekannt (Daniel Seiffert)
    Orwell vs. Trump
    Diese "Gutmenschen" sind an die Stelle des finsteren Regimes getreten, das bei Orwell den Menschen die Wörter und Gedanken verbietet. Oder vielleicht doch jemand anders? Denn so ganz klar - das muss man ihm als künstlerische Freiheit wohl zugestehen - wird beim Orwell-Updater Joffe nicht, wer denn nun in unserer Gegenwart die Rolle der Macht übernommen hat und über "Neusprech" und "Gutdenk" gebietet.
    Die Namen von Autokraten fallen zwar ab und zu mal, und letztes Jahr hatte Joffe dann tatsächlich seinen Leib- und Magen-Helden Orwell kurz gegen Donald Trump ins Feld geschickt. Die Verantwortung für die gegenwärtige Gedankenkontrolle scheint aber doch noch woanders zu liegen, wie dem Text seinerzeit zu entnehmen war:
    "Trump ist der Meister der Manipulation. Das macht ihn zum Paradebeispiel der Postmoderne, die ebenfalls objektive Wahrheit verwirft und an ihre Stelle das 'Narrativ' setzt."
    Die Postmoderne, die alte Säge, man hätte es sich denken können. Denn es ist ja unvorstellbar, dass hinter "Neusprech" und "Gutdenk" ein Klartexter wie Trump stecken würde - zumindest bei den Auswüchsen, von denen Joffe nicht schweigen will.
    "Neusprech" und die US-Gesundheitsbehörde
    "Aus 'Krüppeln' werden 'Behinderte', aus Arbeitslosen 'Hartz-IV-Empfänger', aus Schulversagern 'bildungsferne Kinder', aus Armen 'Benachteiligte'."
    Die George-Orwell-Exegese ist ein weites Feld. Aber dann kam eben vor zwei Wochen die Meldung aus den USA, dass der Präsident, der mächtigste Mann im Staat, die Gesundheitsbehörde CDC angewiesen habe, gewisse Begriffe nicht mehr zu verwenden - etwa "Fötus", "Transgender", "wissenschaftsbasiert".
    "Dieses Geschäft hat früher der totalitäre Staat besorgt. Orwell lässt einen Dezernenten aus dem 'Wahrheitsministerium' dozieren: 'Kapierst Du Denn nicht den eigentlichen Sinn von Neusprech?' Beschweigen und Beschneiden sollen die 'Bandbreite der Gedanken' einengen", schrieb Joffe - allerdings in dem Text von 2016.
    Und nun? Über den Kirchgang zu Weihnachten. Und: "Zum neuen Jahr müssen gute Nachrichten her; also wird sich diese Kolumne nicht über Trump, Erdogan, BER, gar den Weltuntergang echauffieren."
    Dabei wäre das doch die beste Nachricht von allen gewesen nach all den Orwell-Analogien von Josef Joffe - dass einmal eine zugetroffen hätte.