Ausbruch aus dem Exil

07.07.2009
In ihrem letzten Roman "Herr der Seelen" schreibt die 1942 in Auschwitz verstorbene jüdisch-französisch-ukrainische Autorin Irène Némirovsky über den Kampf eines Exilanten um Anerkennung. Die Geschichte handelt von einem jungen russischen Arzt, der um seiner Bekanntheit willen eine Therapie erfindet, mit der man angeblich alle psychischen Leiden heilen kann.
Wie macht man schnell und unaufhaltsam Karriere? Indem man diejenigen, die einen daran hindern, mit ihren eigenen Waffen schlägt. Diese Lektion lernt ein junger russischer Arzt, der mit seiner Familie von der Krim ins Frankreich der 20er Jahre geflüchtet ist, ganz gegen seinen Willen. Denn zunächst hat er nichts anderes im Sinn, als auf ehrliche Weise durchzukommen. Doch für einen Ausländer wie ihn scheint es unmöglich, in der bürgerlichen Welt Tritt zu fassen.

Dank eines Zufalls verschafft er sich Zugang zu den höheren Kreisen, aus denen er sich nicht mehr vertreiben lassen wird, als er erkennt, was diese Welt aus Heuchelei und Doppelmoral zusammenhält. Mit einer von ihm erfundenen pseudofreudianischen Theorie der Sublimierung stellt er die Rundum-Heilung von Phobien, Neurosen und Angstzuständen in Aussicht. Sein Versprechen ist die Erlösung von allen Schuld- und Schamgefühlen. Aus dem Armenarzt Dario Asfar wird ein mit allen Wassern gewaschener, von den Damen der High Society umschwärmter "Herr der Seelen", ein Mann von Macht und Einfluss.

Irène Némirovsky nimmt kein Blatt vor den Mund. Mit dem ihr eigenen Spürsinn deckt sie die Triebkräfte eines verzweifelten Aufstiegswillens ebenso auf wie die egozentrischen Seiten des Bürgertums. Gnadenlos werden Opportunismus, Geltungssucht und die Gier nach Reichtum vorgeführt. Detailliert beschreibt sie das ideelle Ziel dieser Gesellschaft: Ruhm, Macht und den schönen Schein des Dekors. Im Aufstieg ihrer Hauptfigur spiegelt sie das Bewegungsgesetz dieser Welt schlechthin: "Ich brauche Geld", so lautet der erste Satz des Romans. Das eigentlich existentielle Problem zeigt sich erst, wenn diese Eroberung geglückt scheint, denn der Willenskraft des Menschen sind natürliche Grenzen gesetzt. Dabei gelingt ihr ein erstaunlicher Spagat zwischen einfühlsamer Charakterstudie und satirischer Süffisanz.

Geld, Exil und der Kampf um Anerkennung sind Leitmotive, die sich durch ihr ganzes Werk ziehen. Irène Némirovsky wusste, wovon sie schrieb. Sie kannte das Milieu genau, die Reichen und die Schönen der französischen Hauptstadt. Seit ihrer Flucht vor der russischen Revolution versuchte sich die russische Jüdin als französische Schriftstellerin zu behaupten, was ihr scheinbar mühelos gelang, als sie 1929 mit ihrem ersten Roman "Daniel Golder" schlagartig zur Bestsellerautorin aufstieg. Sie war eine fleißige Schriftstellerin. 16 Romane hat sie in den Jahren zwischen 1929 und 1942 geschrieben, der "Herr der Seelen" ist der letzte, der zu ihren Lebzeiten - als Fortsetzungsroman in einer Zeitschrift - 1939 veröffentlicht wurde.

Nicht nur um ihren Lebensstandard zu halten, arbeitete sie viel. Es ging der Staatenlosen vor allem um soziale Anerkennung, um die französische Staatsbürgerschaft, die ihr zeitlebens verwehrt wurde. Dass sie neben zahlreichen Erzählungen und einer Biografie über Tschechow auch Drehbücher verfasste, merkt man auch diesem Roman an. Er ist von einer am Film geschulten Schreibweise geprägt, von Stilmitteln wie Rückblende, vorauseilendem Erzählen, schnellen Rhythmen, harten Schnitten: Ein hochmoderner Bericht über das Schicksal eines Außenseiters und zugleich eine Studie über das Verhängnis der Assimilation.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Irène Némirovsky: Herr der Seelen
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Luchterhand-Verlag, München 2009
286 Seiten, 8,00 Euro
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