Ausbau des Grünwalder Stadions in München

Konflikt um einen Fußballtempel

13:37 Minuten
Spieler des TSV 1860 Muenchen und des 1.FC Magdeburg im Stadion an der Grünwalder Straße in München-Giesing - im Hintergrund Wohnhäuser.
Die Anwohner sind nah dran am Fußballgeschehen im Stadion in der Grünwalder Straße in München - hier der TSV 1860 München gegen den 1. FC Magdeburg im Februar. © picture alliance / Fotostand / Wagner
Von Michael Watzke · 11.03.2020
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Das Fußballstadion des TSV 1860 München liegt mitten im Giesinger Häusermeer. Viele Anwohner sind genervt: von Lärm, Staus und Wildpinklern. Nun soll die Spielstätte auch noch ausgebaut werden - alle großen Parteien sind dafür.
"Servus und herzlich willkommen, liebe Fußballfans, im Grünwalder Stadion …"
Ein Fußball-Nachmittag in München – auf Giesings Höhen, wie die Fans das nennen. Also mitten in der Innenstadt. Für Jakob, vier Jahre alt, ist es der erste Stadionbesuch seines Lebens.
"Wenn man in dem Spielfeld ein Foul macht, was passiert dann?"
"Dann gibt’s einen Freistoß!"
"Was ist Freistoß?"
"Dann darf die Mannschaft den Ball schießen, die gefoult worden ist."
"Ist das ein Elfmeter?"
Erste Fußball-Regelkunde vor dem Heiligen Rasen – in einer der ältesten und traditionsreichsten Sportstätten Deutschlands. Es spielt der FC Bayern – aber nur die "kleinen Roten", die zweite Mannschaft des FCB – gegen Hansa Rostock. Die 1000 Gästefans zeigen eine beeindruckende Choreografie und machen ordentlich Rabatz.
Jakob schreit "Erster!", da er Rostock nicht kennt und außerdem Bayernfan ist. Er spielt selbst gern Fußball vor der Haustür – die ist gerade mal 500 Meter Luftlinie vom Stadion entfernt. Hier, im Grünwalder Kickertempel, den die meisten einfach nur das "Sechzger" nennen, gehen die kleinen Bayern nach einem Handelfmeter schnell 1:0 in Führung.
Die Stimmung bei den 3000 roten Bayernfans ist prächtig. Aber das Stadion ist an diesem Samstag nur spärlich gefüllt. Wenn die Blauen hier spielen – also der TSV 1860 München – dann verwandeln 15.000 Löwen-Fans ein schlichtes, graues Beton-Karree in ein blau-weißes Fahnenmeer - inklusive Fangesängen:
"Wir kämpfen immer weiter
für unsren großen Traum:
noch einmal Deutscher Meister
im Sechzger-Stadion!"
Noch einmal Deutscher Meister im Sechzger-Stadion - das letzte Mal ist 54 Jahre her. Am 28. Mai 1966 erwarteten die Löwen hier in ihrem Wohnzimmer bei strömendem Regen den Hamburger SV.
"Heute Nachmittag im Stadion an der Grünwalder Straße herrschte eine seltsame Atmosphäre: eine Mischung aus Optimismus und Melancholie. Fähnchen und Schirme", fasste damals ein Radioreporter zusammen.
Nach 90 Minuten und zwei Toren auf einem aufgeweichten Acker steht 1860 München als Deutscher Meister fest. Torwart Radi Radenkovic reckt den 50.000 Zuschauern die Salatschüssel entgegen.
"Der Jubel war groß in München, das können Sie verstehen", so der Reporter. "Das sind schöne Bilder: Uwe Seeler gratuliert Trainer Merkel! Und an einer Ehrenrunde kommen die Sechzger natürlich auch nicht vorbei – das ist mittlerweile üblich geworden im großen Fußball!"
Im "großen Fußball" spielen die Sechzger schon lange nicht mehr. Immerhin sind die Löwen letztes Jahr von der vierten in die dritte Liga aufgestiegen und hegen vorsichtige Aufstiegs-Hoffnungen.

Wie eine mittelalterliche Festung

"Jetzt ist man da angelangt, wo man die Chance hat, wieder nach oben zu kommen", sagt ein Löwen-Fan. "Ich sehe die große Chance, wieder Fuß zu fassen und höher zu kommen." Ein anderer: "Wenn ich sehe, was sich im deutschen Fußball aktuell so entwickelt, gerade mit dem vielen Geld in der ersten Liga: Das, was wir haben, das sind wir, die Fans! Das ist der Fußball! Ob das dritte, vierte, fünfte, sechste Liga ist – uns doch egal!"
Der Münchner Löwen-Fan Martin Zeltner sagt: "Gleichzeitig gibt’s natürlich auch die Fans, die der Allianz-Arena hinterhertrauern, die der großen Zeit hinterher trauern. Für die ist das bitter. Das sind meistens Fans, die eher aus dem Umland kommen. Die sind jetzt nicht mehr so wichtig, denn allein mit den Münchnern ist das Grünwalder Stadion ausverkauft. Und das schmerzt die natürlich auch." Steltner steht bei jedem Heimspiel der Sechzger im Fanblock und feiert nach dem Spiel die Blauen – egal ob sie gewonnen oder verloren haben.
Eine alte Fußballer-Weisheit lautet: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Für die Löwenfans gilt: nach dem Spiel ist mindestens genauso schön wie während des Spiels. Denn das Grünwalder Stadion hat den Vorteil, dass es mitten im Stadtviertel thront wie eine mittelalterliche Festung.
Während der FC Bayern mit seiner Allianz-Arena im Fröttmaninger Niemandsland kilometerweit von der Münchner Innenstadt entfernt residiert, scheint das Sechzger-Stadion im Giesinger Häusermeer zu ankern wie ein Schiff, sagt eine Giesinger Ladenbesitzerin: "Man muss sich vorstellen, das Viertel Giesing ging ja eigentlich nur bis zum Stadion, da war ja früher leer."
Deshalb habe man da das Stadion hin gebaut. "Der Wettersteinplatz ist ja überhaupt nicht belebt", berichtet sie. "Ich finde es immer sehr schön, wenn ein bisschen Leben hineinkommt. Ich bin total dafür, ich wohne hier seit 52 Jahren." Sie kenne das Stadion noch aus Zeiten, als mehr als 50.000 Zuschauer hineingingen. "Ich fand das damals klasse."
EUmbauarbeiten am Grünwalder-Stadion in München: Ein Kran steht auf einer Erdfläche, im Hintergrund sind Tribünen zu sehen. 
Beim ersten Umbau des Grünwalder Stadions hatte sich die Kapazität von mehr als 50.000 Fans auf 15.000 verringert. Nun soll sie wieder erhöht werden.© picture alliance / imageBroker / Manfred Bail
Heute passen 15.000 Zuschauer ins Stadion. Nach der geplanten Renovierung sollen es 18.600 sein. Aber manchen Anwohnern ist das zu viel. Sie wären das Stadion lieber los. Sie beklagen vor allem drei Dinge: Lärm, Autoschlangen – und Wildbiesler. Der bayerische Begriff für Freipinkler.
Eine ältere Bewohnerin beobachtet die Fußballfans regelmäßig dabei, "dass sie halt vor den Hauseingängen, in die Garageneinfahrten … je nachdem - da ist‘s dann feucht und stinkt. Und dann kommt am nächsten Sonntag der nächste Schwung." So gehe das immer weiter. "Da würde ich sagen: Die Vereine verdienen so viel. Die könnten bestimmt kurz vor'm Stadion zehn Dixie-Klos aufstellen."
Ihren Namen will die Dame nicht nennen, aus Angst vor möglichen Vergeltungs-Aktionen von Ultra-Fangruppen. Dabei hätten die Münchner Löwen-Anhänger in der Fanszene nicht den Ruf gewalttätiger Raubeine, sagt ein Ordner eines benachbarten bayerischen Fußballvereins. "Also ich denke, aus der Erfahrung dieser Saison sind die Sechzger eigentlich sehr friedvoll gewesen. Ich war auch bei anderen Spielen vor Ort, da gab’s eigentlich nie Probleme."

Aufgemischt von Fans der Gastvereine

So sieht das auch Löwenfan Martin Zeltner. Selbst die hartgesottensten Kuttenträger seien umgänglich und bedrohten niemanden im Viertel. Im Gegenteil: Die Fans seien sogar außerordentlich rücksichtsvoll und umweltbewusst: "Das Leergut wird eingesammelt, und wenn eine gewisse Uhrzeit überschritten ist, ermahnt man sich gegenseitig, ein bisschen leiser zu sein." Das sei tatsächlich so, sagt er. "Weil allen doch auch dran gelegen ist, dass man sich mit der Nachbarschaft gut stellt. Und das eher ausbauen als einstellen."
Der Löwenfan – ein frommes Lamm? Ganz so ist es nicht. Jedenfalls nicht immer. Im Februar gerieten Hooligans von Waldhof Mannheim und Ultras des TSV 1860 München in einer U-Bahn-Haltestelle nicht weit vom Stadion entfernt aneinander. Es flogen Fäuste und Flaschen. Mehrere Menschen erlitten Verletzungen, darunter auch Unbeteiligte.
Oft sind es die Fans der Gastvereine, die den Stadtteil Giesing bei Auswärtsspielen ordentlich aufmischen. Die Hansa-Rostock-Ultras beispielsweise stürmten während des Gast-Spiels bei den Amateuren des FC Bayern einen Stadion-Kiosk. Sie bedrohten Mitarbeiter, rissen Registrierkassen vom Tresen und raubten neben mehreren Flaschen Bier auch 2000 Euro in bar.
Harald Schertler von der zuständigen Polizei-Inspektion Giesing erklärt bei einer Bürger-Versammlung das Einsatzkonzept der Sicherheits-Kräfte: "Unser oberstes Ziel ist immer die Fantrennung. Wir wollen es am besten gar nicht dazu kommen lassen, dass sich irgendwo gegnerische Fangruppierungen begegnen, sondern wir versuchen von Haus aus, die auseinanderzuhalten." Das stecke auch hinter so mancher Maßnahme, die "a bissl kritisch gesehen wird".

Alle Parteien für Ausbau des Stadions

Damit spricht Schertler auf weiträumige Straßensperrungen durch die Polizei an. Die sehen viele Anwohner kritisch, weil sie dadurch oft nicht mehr mit dem Auto von oder zu ihrer Wohnung kommen. Überhaupt sei die Verkehrslage an Spieltagen kritisch, sagt ein Anwohner auf der Bürger-Versammlung. Zwar liege das Grünwalder Stadion direkt an einem Autobahn-Zubringer - doch er gibt zu bedenken: "Wenn sich da aber Rückstaus bilden – und das passiert regelmäßig, wenn die Kreuzungen gesperrt werden –, dann sind die endlos lang." Dann kämen weder die Anwohner raus aus der Stadt, noch jemand rein. Bis zu vier Stunden seien die Auswirkungen zu spüren.
Beate Zurek kennt diese Beschwerden. Die Münchner SPD-Stadträtin ist als Referatsleiterin zuständig für das Grünwalder Stadion. Sie will die Heim-Vereine zwingen, Fußball-Tickets in Zukunft nur noch in Verbindung mit öffentlichen Nahverkehrs-Tickets zu verkaufen. So will sie den Individual-Verkehr an Spieltagen eindämmen.
Das Stadion selbst stellt Zurek nicht infrage: "Ich bin als Sportreferentin für jede Sportstätte dankbar, die wir dicht in der Stadt haben." Sie gebe die Möglichkeit, in der Innenstadt Sport zu treiben. "Und selbst, wenn sich die Löwen entscheiden sollten, was auch immer zu machen, wird es diese Sportstätte brauchen." Es sei gut, dieses Stadion mitten in der Stadt zu haben. "Sport bei den Menschen", sagt Zurek.
Diesen Leitsatz hat die Stadt München nicht immer vertreten. Und auch der Verein 1860 hat in den letzten Jahrzehnten mit Alternativen geliebäugelt. Ex-Präsident Karl-Heinz Wildmoser trieb die Löwen hinaus in die Allianz-Arena zum FC Bayern. Die jahrelang erzwungene Kooperation mit dem verhassten Stadtrivalen bezeichnen viele Löwenfans bis heute als Diaspora.
Später wollte der "reiche Scheich" Hasan Ismaik, ein umstrittener Löwen-Mäzen aus dem Emirat Katar, ein neues Sechzger-Stadion im Münchner Osten bauen, vor den Toren der Stadt. Dort sollten vor dem Arena-Eingang sogar Löwen-Käfige mit echten Raubtieren stehen. Die Stadt München vereitelte die Pläne schnell.
Nun, wenige Tage vor der Oberbürgermeisterwahl in München, sprechen sich alle großen Parteien für den Ausbau des Sechzger-Stadions aus. Sowohl der amtierende OB Dieter Reiter, SPD, als auch seine Herausfordererinnen von CSU und Grünen wollen den Grünwalder Fußballtempel vergrößern und verschönern.
Stadtsporträtin Zurek sagt: "Wir haben einen Kostenrahmen von um die 35 Millionen Euro." Das sind nur Schätzungen. Das Baureferat werde schätzen, ob es vielleicht 40 Millionen Euro werden. "Aber der Stadtrat hat uns aufgegeben, dass wir dann betrachten, welche Mietmodell-Möglichkeiten es gibt. Wir müssen also darlegen, wie man damit umgehen kann."

Fan-Trommeln nach Zeitplan?

Mit anderen Worten: Die Nutzervereine müssen sich möglicherweise auf höhere Kosten einstellen. Denn der Bau gehört der Stadt München, die Vereine sind nur Mieter. Neben dem TSV 1860 und dem FC Bayern kommt in wenigen Tagen noch ein dritter Mieter hinzu: der Fußball-Viertligist Türkgücü München trägt am 15.März sein erstes Heimspiel im Grünwalder Stadion aus. Man sei stolz, an diesem altehrwürdigen Ort zu spielen, sagt ein Vereinssprecher. Und wer Türkgücü-Fans kennt, der weiß: Es wird laut werden im Stadion.
Einigen Anwohnern ist jetzt schon bang. "Ich wohn ja da draußen am Giesinger Waldhaus", sagt eine Frau. "Jeden Sonntag ist da ein Trommeln, dieser Lärm." Sie wünscht sich, dass nur zu bestimmten Anlässen getrommelt wird. "Von mir aus am Anfang, dass man sich aufheizt. Dann in der Pause, dass man sich entspannt. Und am Schluss – je nachdem, wer verliert - können dann die Gewinner nochmal trommeln." Aber: "Nicht ununterbrochen! Die trommeln ja während des ganzen Spiels!"
Es ist nur schwer vorstellbar, Fußballfans dazu zu bringen, ihre Trommeln nach festgelegten Zeitplänen zu rühren. Stadträtin Zurek sagt, dass mit dem Ausbau des Grünwalder Stadions auch der Schallschutz verbessert wird. So soll das "Sechzger" zum ersten Mal in seiner Geschichte ein durchgehendes Dach bekommen. Sie glaube, dass die Situation besser werde, wenn das Stadion in allen Bereichen überdacht ist. Fügt aber auch hinzu: "Es ist halt so: man lebt nicht in einer Stadt, die sonst leise ist." Es gebe immer Lärmkonflikte. "Da muss man dann zu einer Abwägung kommen. Das Stadion ist halt schon sehr, sehr lange da."
Seit 109 Jahren. Fragt man Löwenfans, wie lang das Stadion noch stehen wird, dann sagen sie: Bis 1860 wieder deutscher Meister wird. Also nochmal 109 Jahre. Wenn das Grünwalder also demnächst wegen Renovierungsarbeiten für ein paar Jahre schließt, dann hätte es sozusagen Halbzeitpause.
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