Aus Häuptlingen wurden Könige

05.05.2011
Kenntnisreich und akribisch verfolgt Peter Heather die Frage, inwieweit Migration eine wichtige, wenn nicht sogar die Hauptursache für die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend darstellt.
Haben die großen Migrationsbewegungen, die oft unter dem populären Begriff Völkerwanderung zusammengefasst werden, Europa geschaffen? Wurde das Römische Reich durch Einwanderung zerstört? Schaffte sich Rom selbst ab?

Die Grundthese des Buches lautet: Durch die Ausdehnung des Imperium Romanum in Europa entstanden in Nord,- Mittel- und Südosteuropa Ungleichheiten, die Wanderungsbewegungen auslösten. Durch die Auseinandersetzung mit dem römischen Imperialismus und durch Migration zerfiel bei den Germanen die Gleichheit und es entwickelten sich Gesellschaften mit deutlichen sozialen Unterschieden. Staatliche Strukturen basieren für Heather auf sozialer Ungleichheit. Aus Kriegshäuptlingen werden Könige. Kleine Stämme geraten in einen Verbund, der unaufhörlich wächst. Daraus gingen die Königreiche der Alamannen, der Burgunder und der Goten hervor.

Diese Grundthese verfolgt der Autor durch die Geschichte, die im ersten Teil in der Auseinandersetzung der germanischen Barbaren mit dem Römischen Reich bis zum Untergang Westroms und der Gründung des fränkischen Staates besteht. Heathers Verdienst besteht darin, den zweiten Teil der Geschichte der Entstehung Europas, der häufig vergessen wird, ebenfalls darzustellen, nämlich die Besiedlung Osteuropas durch die Slawen. Erst mit der Christianisierung der Slawen stehen wir wirklich an der Wiege des heutigen Europas.

Dabei geht er methodisch korrekt vor, zeichnet die Entwicklung vor allem anhand archäologischer und schriftlicher Quellen nach und interpretiert sie mithilfe moderner Analysemethoden und Forschungsansätze aus der Soziologie, vor allem der Migrationsforschung und der Ethnologie.

Der Vorteil der Darstellung ist zugleich ihr Nachteil, denn das Buch richtet sich eher an ein überdurchschnittlich historisch interessiertes Publikum, das bereit dazu ist und Genuss dabei empfinden kann, der minutiösen Argumentation des Autors zu folgen. Heather hat kein schnell zu lesendes Buch geschrieben, das überdies ein wenig detailverliebt daherkommt, aber er hat ein wichtiges Buch verfasst, ein Grundlagenwerk zur Frage der Migration.

Sein Fazit gipfelt nach guten 500 Seiten im "dritten Newtonschen Gesetz der imperialen Herrschaft": "Übt ein Imperium A auf eine Gruppe B an seiner Peripherie eine Kraft aus (actio), so wirkt eine gleich große, aber entgegen gerichtete Kraft von der Gruppe B auf das Imperium A (reactio)." Dieser Gegensatz hat schließlich das Imperium Romanum hinweggefegt.

Heathers Buch legt nahe, die Entwicklungen in der römischen Antike mit heutigen Entwicklungen zu vergleichen und sich den wirklichen, den bedrohlichen Problemen zu widmen, die Heather in seiner brillanten Analyse so anschaulich gemacht hat. Man muss nicht in allen Punkten mit ihm einer Meinung sein, aber er liefert viel Stoff zum Nachdenken.

Besprochen von Klaus-Rüdiger Mai

Peter Heather, Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus
Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Jendricke, Rita Seuß, Thomas Wollermann, Kollektiv Druck-Reif
Klett-Cotta, Stuttgart 2011
667 Seiten, 39,95 Euro