Aus einem Spiel wird brutaler Ernst

30.08.2010
Der Roman schildert den Amoklauf an einer Schule. Allerdings nicht aus Sicht des Täters, sondern durch die Ich-Erzählerin Valerie, die Mittäterin und Opfer zugleich ist. Auch die Tat selbst bleibt im Hintergrund - entscheidend sind die Folgen und die tiefen Einblicke in Valeries Seele.
Am 11. März 2009 geschah das Unfassbare: der 17-jährige Tim K. erschoss in Winnenden neun Mitschüler, drei Lehrerinnen und drei Passanten. Ähnliches war 2002 in Erfurt passiert, drei Jahre zuvor hatte sich das Schulmassaker von Littleton ereignet, zig weitere Fälle haben die Welt erschüttert. Der Amoklauf in Schulen ist seitdem nicht nur Gegenstand soziologischer und psychologischer Studien, sondern auch einiger sehr spannender Jugendbücher. Gerade ist wieder eines erschienen: Jennifer Browns "Die Hassliste".

Ein Amoklauf – oder School-Shooting, wie die Fachleute sagen – ist für ein Jugendbuch ein faszinierendes Sujet. Haben wir es doch mit einem Thema von geradezu mythischer Wucht zu tun: Da ist der Täter, der in einer ausweglosen Situation steckt und – unvorhergesehen – sich und seine Welt zerstört. Da sind die zufällig oder bewusst getöteten Opfer, die in irgendeiner Weise mit dem Schicksal des Täters verbunden sind. Und da sind die traumatisierten Zeugen und Angehörigen der Toten. Ein kleiner Kosmos, der nach eigenen Regeln funktioniert, wird tragisch zerrissen. Nach dem Amoklauf ist alles anders, als es war.

Es gibt inzwischen viele dokumentarische Romane und fiktive Geschichten über Amokläufe an Schulen. Sie alle schildern den oder die Täter und die Tat von außen, in Dokumenten, durch einen allwissenden Erzähler, Zeugen oder Freund. Jennifer Brown aber schildert das Geschehen von innen, denn Valerie, ihre Ich-Erzählerin, ist Mittäterin und zugleich Opfer. Ihr Freund Nick eröffnet in der Cafeteria der Highschool das Feuer. Für Valerie passiert das vollkommen unerwartet, sie schützt eine Mitschülerin und wird schwer getroffen. Nick tötet sechs Menschen und sich selbst. Valerie ist außer sich, allerdings hatte sie gemeinsam mit Nick die "Hassliste" geführt, auf der die Namen der Opfer standen.

Für Valerie war die Liste ein Spiel gewesen, für Nick brutaler Ernst. Dass Valerie nicht bemerkt hat, wie Nick immer tiefer in seinen schwarzen Mordgedanken versank, ist durchaus glaubhaft. Jennifer Brown zeigt, wie blind die 15-Jährige in ihrer Verliebtheit war und wie wenig sie nicht nur ihren Freund, sondern auch sich selbst kennt.

Im Mittelpunkt steht nicht die Tat, sondern ihre Folgen: Valeries Versuch, ihre Naivität und Mitschuld zu verarbeiten und ihre Umwelt davon zu überzeugen, dass sie niemals töten wollte. Mühsam lernt sie, ihr zusammengebrochenes Leben wieder aufbauen und sich selbst kritisch zu sehen.

Jennifer Brown erzählt nicht chronologisch, sondern fügt verschiedene Erzählfäden ineinander. Sie macht damit deutlich, dass in Valeries Kopf alles durcheinander geht: die Tat selbst wie die Zeit davor und danach. Ganz nah dran sind wir an ihren Schuldgefühlen, ihrer Scham und Angst, ihrer Suche nach dem Warum und ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit. Die Autorin hat das komplexe Thema spannend, überzeugend, sprachlich sehr lebendig und bewegend in Szene gesetzt.

Jugendbücher über Amokläufe können Amokläufe nicht verhindern, aber sie können Motive finden, seelische Qualen aufzeigen, Ängste formulieren. Sie können zeigen, was allen – fast immer männlichen - Attentätern fehlt: Zuneigung, Achtung und Vertrauen. Sie regen zur Diskussion an, machen Mut, Probleme anzusprechen, gerade in der Schule. Und sie können sensibilisieren für all die vielen leisen Signale, die mögliche Täter aussenden, bevor sie endgültig zum Messer, zur Pistole, zum Gewehr oder sogar zur Bombe greifen.

Besprochen von Sylvia Schwab

Jennifer Brown: Die Hassliste
Aus dem Amerikanischen von Beate Schäfer
ab 14 Jahre
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2010
456 Seiten, 12,95 Euro
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