Aus dunklen Quellen

11.03.2008
Seit Gutenberg haben die Medien nicht nur für die Verbreitung von überprüfbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen gesorgt. Sabine Doering-Manteuffel zeigt in ihrem Buch "Das Okkulte", dass seit der frühen Neuzeit bis heute über die medialen Kanäle auch Aberglauben, Unsinn und Unvernunft befördert wurde.
Frage: Was verbindet zwei auf den ersten Blick so himmelweit voneinander unterschiedene Dinge wie das Internet-Lexikon Wikipedia und die Kaninchengeburt zu Ipswich miteinander? Antwort: Es handelt sich in beiden Fällen um okkultes Wissen. Diesen Zusammenhang stellt zumindest die Augsburger Ethnologin Sabine Doering-Manteuffel in einer neuen Studie dar, die sich dem "Okkulten" im weiten Bogen von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart widmet. Bei der "Kaninchengeburt" von Ipswich – dem Fall einer englischen Magd, die im Jahr 1726 mehrere Kaninchen geboren haben soll – handelt es sich um einen der bekanntesten, durch billige Drucke medial weit verbreiteten und bis ins 20. Jahrhundert immer wieder aufgegriffenen Fälle volkstümlichen Wunder- und Aberglaubens und pseudowissenschaftlicher Sensationsbetrügerei. Okkult lassen sich die Berichte darüber nennen, weil sie ungesicherte und letztlich unmögliche Fakten weiterverbreiteten – ja mehr noch: Fakten als Wissen in die Welt stellten, deren unlauteres Zustandekommen von Anfang an bekannt waren.

Bei Wikipedia handelt es sich dagegen um eine wildwüchsige Ansammlung von Informationen, die von verschiedenen Parteien mit verschiedenen Interessen und auch verschiedenen Verständnissen von Wissenschaft und Wahrheit ins Internet gestellt werden und deren Herkunft und Quellen oft im Dunkeln bleiben. Zwar ließe sich theoretisch wohl fast immer überprüfen, ob die Informationen korrekt sind oder zumindest den aktuellen wissenschaftlichen Stand darstellen, aber als Gesamtnetzwerk ist Wikipedia zunächst mal ein Sammelsurium obskurer und unüberprüfter Informationen.

Für Doering-Manteuffel stellt das Internet ganz allgemein ein okkultes Medium dar, in dem nicht nur unüberprüfte Informationen Wildwuchs treiben, sondern auch alle möglichen obskurantistischen, esoterischen und magischen Inhalte gepflegt werden, deren Überleben bis in die Wissensgesellschaft der Gegenwart eigentlich als erstaunlich erscheinen könnte. Dass aber gerade dieses Überleben eine eigene Logik hat, will Doering-Manteuffel mit ihrer Studie zeigen. Denn anders als es eine optimistische Geschichtsschreibung darstellen würde, haben die stetig sich beschleunigenden Mechanismen zur Verbreitung von Inhalten und die rasante Entwicklung von Medien seit der Erfindung des Buchdrucks nicht nur zur größeren Bekanntheit von rationalem Wissen und gesicherten Informationen geführt, sondern auch immer schon und gleichzeitig die Verbreitung von Aberglauben, Unsinn und Unvernunft befördert.

Doering-Manteuffel stellt diese These, dass die Medien seit jeher nicht nur dem Wissen, sondern auch dem Unwissen dienten, an den Anfang ihrer Studie. Das ist einleuchtend, aber letztlich wenig sensationell. Interessant sind dann die einzelnen Kapitel, in denen die Autorin materialreich verschiedene okkulte Wissensformen über die Jahrhunderte darstellt. Es beginnt mit der Alchemie, dieser seit dem 12. Jahrhundert aus dem arabischen Raum importierten Geheimwissenschaft, geht weiter über Teufelsglauben und Jahrmarktsprophetie im 18. Jahrhundert, Geisterglauben im 19. Jahrhundert, Spiritismus und völkisches Denken im 20. Jahrhundert und endet bei den Kornkreisen der 70er Jahre und dem heutigen Internet.

Anschauliches Material ist die Stärke des Buches; seine Schwäche ist ein gewisser Mangel an Theorie. Der Begriff des "Okkulten" bleibt eigenartig undefiniert und umfasst sehr unterschiedliche Phänomene – Doering-Manteuffel breitet eine Fülle von Einzelfällen, von offensichtlich betrügerischen Praktiken bis hin zu esoterischen Glaubensformen aus und bietet damit eher eine Art weitschweifigen Panoramablick denn eine konzise Definition des "Okkulten". Die noch immer schwierige Frage, wo genau die Trennlinien zwischen guter wissenschaftlicher Praxis und rationalem Wissen einerseits und okkulten Praktiken und Wissensformen andererseits zu ziehen sind, wird wenig thematisiert. Gerade diese Frage ist aber interessant. Denn ganz abgesehen davon, dass auch heute noch wissenschaftstheoretische Debatten über das Verhältnis von legitimem und illegitimem Wissen geführt werden, wird ja gerade in der frühen Neuzeit diese Abgrenzung erst etabliert. Die Alchemie etwa ist nicht einfach "okkult", sondern Vorläuferin sowohl von esoterischen Strömungen als auch unserer heutigen Wissenschaft Chemie. Doering-Manteuffel beschreibt in spannender Weise das Okkulte als langen Schatten der Aufklärung; wo aber genau die Grenze zwischen Schatten und Licht liegt, ist vielleicht doch etwas unklarer, als es dieses Buch an manchen Stellen vorauszusetzen scheint.

Rezensiert von Catherine Newmark

Sabine Doering-Manteuffel: Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung. Von Gutenberg bis zum World Wide Web
Siedler, München 2008
352 Seiten, 24,95 Euro