Aus der Zeit gefallen

10.01.2012
Die 1995 in Los Angeles verstorbene chinesische Autorin Eileen Chang beschreibt in ihrem Werk das China der 30er- und 40er-Jahre, im Umbruch zwischen Tradition und Moderne. In Deutschland liegen ihre Erzählungen nun in einer dreibändigen Werkausgabe vor.
Am 8. September 1995 verschaffen sich Beamte der amerikanischen Polizei Zutritt zu einem kleinen Apartment in Los Angeles, in dem seit vielen Jahren eine ältere Chinesin lebte.

Wohnungsnachbarn war aufgefallen, dass sie die Frau, die nie ein Wort mit ihnen sprach und auch sonst keinerlei soziale Kontakte pflegte, seit Wochen nicht gesehen hatten. Die Polizistin finden Eileen Changs Leiche in eine weiße Decke gehüllt, die Wohnung ist akkurat aufgeräumt, auf einem Zettel hinterlässt sie Anweisungen für ihre Bestattung, an der nur eine Handvoll Menschen teilnehmen.

Die berühmteste chinesische Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts ist zum Zeitpunkt ihres Todes fast vollkommen vergessen. Sie ist nicht nur aus Zeit gefallen, sie hat die Zeit auch selbst angehalten. Nachdem die 1921 in Shanghai geborene Schriftstellerin im Jahr 1955 von Hongkong aus in die USA emigrierte, zog sie sich mehr und mehr zurück, bis sie in den letzten zwei Jahrzehnten ihres Lebens jede Berührung mit der Umwelt vermied und zuletzt ihre Arbeit an der Universitätsbibliothek von Los Angeles in die Nacht verlegte, wenn sie keinen Kollegen anzutreffen fürchten musste.

Dieser biografische Aspekt - Eileen Changs mysteriöses Verschwinden in einem Zeitloch - ist auch deshalb bedeutsam, weil er unmittelbar zum Wesenskern ihres literarischen Werks führt, das längst zum Kanon der Weltliteratur der Moderne zählt. Denn was Eileen Chang, ein weiblicher Shooting-Star der Shanghaier Literaturszene der frühen und mittleren 40er-Jahre, in ihren Romanen, Novellen und Geschichten darstellt, ist vor allem eines: Der Stillstand der Zeit bei der Kollision historischer Epochen. In der novellenhaften Erzählung "Das goldene Joch", der Titelgeschichte eines Erzählungsbandes, der Eileen Changs dreibändige, deutschsprachige Werkausgabe abschließt, ist dieses Phänomen besonders anschaulich dargestellt.

Die schöne, aber aus ärmlichen Verhältnissen stammende Qiqiao hat als junge Frau nur die Wahl zwischen einem Leben als Konkubine oder einer arrangierten Ehe. Sie entscheidet sich für letzteres, heiratet in eine reiche, traditionelle Familiensippe ein und wird, ihrem niedrigen sozialen Status gemäß, die Ehefrau des Sohnes mit der geringsten Attraktion: Er ist krank und bettlägerig. Ihr bitteres Leben entspricht der Sittengeschichte des feudal-traditionellen Chinas des 19. Jahrhunderts, während sich um sie herum jedoch die gesellschaftliche Sittenwelt des bürgerlichen vorkommunistischen Chinas entfaltet, mit Liebesehen, weiblicher Emanzipation, Mädchenschulen nach englischem Vorbild - und ungeschnürten, unverkrüppelten Mädchenfüßen.

Eileen Chang wurde häufig als asiatische Virginia Woolf bezeichnet, ein Ruf, den sie vor allem ihrer modernen Erzählweise und ihrem literarischen Umgang mit Zeitebenen verdankt. Ihre einzigartige Kunst, abendländische Poetik mit Sujets ihrer chinesischen Heimat zu verschränken, lässt sich in dem Erzählband "Das Goldene Joch" ausgezeichnet studieren.

Besprochen von Ursula März

Eileen Chang: "Das goldene Joch"
übersetzt und mit einem Nachwort von Susanne Hornfeck
Ullstein Verlag, Berlin 2011
368 Seiten, 19.99 Euro
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