Aus der Tiefe des psychologischen Raums

Von Jochen Stöckmann · 06.11.2009
Frank Gaudlitz wurde mit seinem Projekt "Warten auf Europa" bekannt, in dem er entlang der Donau Menschen spontan und am Ort des Aufeinandertreffens porträtiert hat. Im bewussten Gegensatz dazu fotografierte Gaudlitz für seine neue Serie "Casa Mare" Angehörige unterschiedlicher Nationalitäten und Ethnien am Rande Osteuropas in ihren Wohnzimmern und in Festtagskleidung.
Marmarosch, Dobrudscha oder Vojdovina, das scheinen ferne Länder - weit im Osten Europas. Aber auch dort, hinter den Bergen, gibt man sich weltmännisch, zumindest auf einigen Porträts, die der Fotograf Frank Gaudlitz unter dem Titel "Casa Mare" zusammengestellt hat. Meist im Sonntagsstaat, immer in der eigenen Wohnung traten Zufallsbekanntschaften vor die Stativkamera - und da posieren zwei Herren sozusagen in leitender Position. Beide im dunklen Anzug, mal leger am Treppenlauf einer Designer-Wohnung, dann zwischen Antiquitäten und kostbar eingebundenen Büchern. Auch Frauen mittleren Alters geben - im engen Kostüm, eine Hand resolut auf der Hüfte - gebieterisch den Boss. Und dann fallen gleich nebeneinander zwei vollbärtige Männer auf, mit modischer Sonnenbrille und weißem Sommerhut der eine, mit brav gefalteten Händen über der karierten Schürze, die Schultern bedeckt von einer Art Soutane der andere:

"Das ist ein Kloster. Und der mit der Sonnenbrille war etwa 30 Jahre in einem Kloster in England. Der andere ist erst 30 - und war, seit er ins Kloster gegangen ist, in diesem Kloster. Und so unterschiedlich ist dann auch die Kleidung: Der eine kommt aus England und sieht wie ein westeuropäischer, vielleicht auch in gewisser Weise wie ein Boss aus und der andere sieht eher volkstümlich aus."

"Volkstümlich", das heißt für Frank Gaudlitz vor allem ethnische Vielfalt: junge Roma-Frauen in traditionellen, bunten Gewändern, Teenager, die sich mal leger, mal lasziv inszenieren, alte Männer, deren abgearbeiteten Hände aus den viel zu kurzen Ärmeln ihrer Jacketts hervorschauen. Honoratioren, die sich vor einer Wohnzimmerwand voller Hirschgeweihe präsentieren, in Lodentracht oder im piekfeinen, offensichtlich ungewohnten Anzug. Und schließlich ein Pope, eingehüllt in seinen schwarzen Talar, neben dem Hünen im langen, schwarzen Ledermantel, der in Türstehermanier die Hände über dem Bauchnabel kreuzt. Gegenüberstellungen wie diese prägen das Fotobuch , an dem Gaudlitz ein halbes Jahr lang gearbeitet hat.

"Der Vorsteher eines Klosters - und der andere hat ein Kraft-Studio. So ist die Welt: sehr spannende Figuren miteinander. Die Ausstellung - da musste ich auf die Räume reagieren und da habe ich auch das erste Mal versucht, einen Block zu hängen, was ich noch nie in meinem Leben gemacht habe. Einen Block aus Porträts, 18 Bilder."

In Dreierreihen hängen die "Casa Mare"-Porträts in der Galerie 23 in Cottbus übereinander. Mehr noch als im Buch fällt da eine Ausnahme auf: der Siebenbürger Pastor Eginald Schlattner, ein auch hierzulande bekannter Schriftsteller, der zwischen zwei gemalten Porträts steht. Schlattner versteht sich auszudrücken, weiß selbst, wie man vor einer Kamera jenes Bild abgibt, das man von sich sehen möchte. Anderen Aufnahmen ist anzumerken, wie dieser Fotograf mit Geduld und Einfühlungsvermögen einen Dialog anbahnt, immer im direkten Augenkontakt über die Kamera hinweg:

"Ich habe einen Schachtsucher, er sieht mein Gesicht, ich sehe sein Gesicht. Und wenn ich in den Schachtsucher gucke, verneige ich mich. Und das macht was aus: es entsteht psychologischer Raum. Da brauche ich keine Sprache dazu. Und dann kann man ein bisschen gucken, bis er dann zur Ruhe kommt, bis alle Masken oder Eitelkeiten, die noch so vorgetäuscht werden, fallen gelassen werden."

Das fällt den Porträtierten um so leichter, weil Gaudlitz die Begegnungen vor der Kamera in ihre vertraute Umgebung verlegte. Auf den Dörfern war das, was auch hierzulande noch in den Sechzigern die "gute Stube" hieß:

"Das sind kleine, dunkle Räume - das heißt, die Lichtsituation muss irgendwie bewältigt werden. Da hab ich das vorhandene Licht genutzt und lieber eine Sekunde lang belichtet. Was die Fotos verdichtet und was wiederum auf die Fotografie des vorletzten Jahrhunderts zurückgeht."

Aus der langen Belichtungszeit resultieren statuarische, aber keineswegs statische Fotos: Studien des Habitus, der Haltung, unterstützt durch Kleidung und Dinge des Alltags im Hintergrund. Bilder, die zum Nachdenken über Zusammenhänge, zum Erfinden kleiner Geschichten anregen. Wer sich wie Frank Gaudlitz auf Begegnungen mit und in Osteuropa einlässt, begibt sich auf eine Zeitreise, schaut weiter und tiefer als jede Statistik. Das liegt wohl auch daran, dass der Fotograf sich bei der bedächtigen Wahl des Standpunkts, bei der Erkundung der privaten Räume weniger auf nüchternes Kalkül als auf sein Gefühl verlassen hat. Etwa beim Foto einer jungen Blondine, die im schulterfreien Abendkleid vor einem Wandbrett mit Küchenmessern steht, einem Dutzend scharfer Stahlklingen, die gefährlich neben einem blutroten Kühlschrank aufblitzen.

"Ich hatte erst fotografiert in der Wohnstube, war damit sehr unzufrieden und hatte schon wieder alles eingepackt. Und dann habe ich einen Blick in diese Küche geworfen! So etwas passiert bei mir nicht im Kopf, sondern da gab es einen Stich im Magen. Dann habe ich gesagt: Können wir nicht noch einmal hier fotografieren? Und da war ich schon sicher, dass das viele Brüche in sich hat."

Diese feinen Risse, die subtilen Unstimmigkeiten reizen zum genauen Hinschauen, zum Auskosten eines Schwebezustandes, der nicht mehr lange währen dürfte: weder Verherrlichung eines rückständigen Alltags, der bei den Älteren Falten und Furchen hinterlassen hat, noch Glorifizierung einer gelackten und stromlinienförmigen Moderne, der sich die jüngere Generation nähert. Noch aber hält sich, was Frank Gaudlitz, der reisende Porträtist, so nur am Rande Europas kennenlernte:

"Das ist so erstaunlich, dass mir eine Offenheit entgegengebracht wird. Und die verschwindet zunehmend, wenn der Mensch mehr besitzt, den Besitz mehr hervorkehrt und damit wächst scheinbar ein großes Misstrauen: In Osteuropa, wenn ich 50 Menschen gefragt habe, haben 49 Ja gesagt auf der Straße. In Deutschland musste ich hundert fragen, um einen fotografieren zu können."
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