Aus der Pandemie lernen

Wie geht es nach Corona weiter?

29:41 Minuten
Illustration einer diversen Gruppe
Dass es eine neue, solidarische Achtsamkeit braucht - diese Erkenntnis könnte am Ende von Corona stehen, meint Carsten Brosda. © Gettyimages / fStop / Malte Mueller
Carsten Brosda im Gespräch mit Thorsten Jantschek · 10.10.2020
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Corona hat die Gesellschaft verändert. Welchen Herausforderungen müssen wir uns nun stellen? Carsten Brosda, Hamburger Kultursenator, glaubt an eine neue Lust der politischen Gestaltung eines solidarischen Gemeinwesens.
Die Corona-Gegenwart hat uns Bürger, die Politik, die Wirtschaft und die Wissenschaft fest im Griff. Innerdeutsche Reisebeschränkungen, Kontaktbeschränkungen in deutschen Großstädten, all die Sofortmaßnahmen und Freiheitseinschränkungen, Hilfsprogramme und sozialen Ungewissheiten prägen das alltägliche Leben. In der Krise werden grundsätzliche Fragen aufgeworfen, die es nach der Krise zu beantworten gilt. "Vor uns liegt eine Zeit, die nach politischer Gestaltungslust geradezu schreit", glaubt der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda (SPD). Als Gesellschaft müssen wir die grundlegenden Fragen unseres Zusammenlebens neu justieren.
Solidarität zum Beispiel dürfe nicht darin bestehen, die in den Pflegeberufen Arbeitenden vom Balkon zu beklatschen, sondern es gehe darum, diese Arbeit angemessen zu bezahlen. "Es kann ja nicht sein", so Brosda, "dass ich sage: das ist so wichtig, das ist so systemrelevant, aber ich gehe mal davon aus, dass Menschen das aus intrinsischer Motivation heraus tun, weil es systemrelevant ist." Es sei wichtig, sich gesellschaftlich über solche Fragen klar zu werden und sie politisch umzusetzen.

Kapitalismus auf dem Prüfstand

Auch die Logik kapitalistischen Wirtschaftens gehöre auf den Prüfstand, jedenfalls dann, wenn es um zentrale Bereiche der Gesundheitspolitik gehe. "Wenn wir den marktwirtschaftlichen Ratschlägen gefolgt wären", so Brosda, "dann hätten wir vor zwei Jahren begonnen, Bettenkapazitäten in den deutschen Krankenhäusern abzubauen, weil uns die Bertelsmann-Stiftung aufgeschrieben hat, dass wir die nicht brauchen, dass das alles überflüssig sei, dass das unwirtschaftlich und unrentabel sei."
Stattdessen hätte eine Gesellschaft, der die Krisenerfahrung in den Knochen steckt, jetzt die Möglichkeit, sich auf die Bedingungen und die Regeln privatwirtschaftlichen Handelns zu verständigen.
Dazu gilt es für den Hamburger Kultursenator qua Profession auch, die Kulturinstitutionen durch die Krise zu führen, sie zu bewahren: "Wir brauchen jetzt Künstlerinnen und Künstler! Wenn wir an diese Fragen herangehen, dann ist unerträglich, mir eine Gesellschaft vorzustellen, in der wir nicht auch dieses wilde Denken der Kunst mit in die Verständigungsprozesse darüber hineinholen, wie wir eigentlich künftig miteinander leben wollen."

Das Gespräch im Wortlaut:

Deutschlandfunk Kultur: Sprunghaft gestiegene Infektionszahlen in dieser Woche, dauernd werden neue Pandemie-Richtwerte, wie zuletzt die Krankenhausbelegungsraten oder der sogenannte CT-Wert, in die Diskussion gestreut, dazu ein heilloses Kuddelmuddel, was innerdeutsche Reiseregelungen betrifft. Während die Gegenwart gefühlt über uns zusammenschlägt, fordern Sie, Carsten Brosda: Lasst uns doch mal über die Debatten nachdenken, die wir, von Corona ausgelöst, nach Corona dringend führen müssen! Herr Brosda, warum sollten wir denn heute schon an die Debatten von morgen denken?
Brosda: Weil ich ein bisschen die Sorge habe, dass wir – wenn wir das nicht tun – die größeren Linien, die in der jetzigen Krisenbewältigung stecken, schnell wieder aus der Hand verlieren. Das haben wir über den Sommer ehrlicherweise schon mal gemerkt, weil wir in März, April und Mai schon so eine Phase hatten, wo wir uns in der Gesellschaft sehr grundsätzliche Fragen und Debatten zugetraut haben. Kaum wurde es ein bisschen besser, haben wir das alles schon wieder vergessen. Da war die Frage, wie reden wir über unsere Verletzlichkeit, wie reden wir über Solidarität, über die Rolle des Staates und all die Themen, die vorher in der Luft waren, ganz schnell wieder durch und es war eher wie eine Mischung aus "Gott sei Dank ist es vorbei" und "Wie gemein ist das denn, dass wir immer noch eingeschränkt sind in der Öffentlichkeit?".
Ich glaube schon, dass der Schock und auch der Nachhall des Schocks, den Corona und diese gesellschaftliche Erfahrung uns gebracht haben, tiefer sitzen wird und uns noch lange nach den Zeiten beschäftigen wird, in denen wir vielleicht sagen können: "Medizinisch haben wir das Virus jetzt im Griff. Gesellschaftlich bleibt da noch einiges offen".

Der Lockdown hat uns Fragen aufgegeben

Deutschlandfunk Kultur: Der Soziologe Armin Nassehi hat in einem Zeitungsartikel mal gesagt, die Gesellschaft sei eigentlich infiziert, nicht die einzelnen Individuen. Worin bestehen die Symptome dieser Infektion?
Brosda: Wir merken ja an vielen Stellen, dass wir mit unserem gesellschaftlichen Aufbau nicht mehr so ganz zurande kommen im Moment, dass viele der Fragen, die sich um den Aspekt Corona ranken, etwas damit zu tun haben, wie wir unser Zusammenleben organisieren, und dass vieles davon, was wir vorher für selbstverständlich erachtet haben, sich auf einmal nicht mehr leben lässt.
Nehmen Sie die Notwendigkeit im Frühjahr, in diesem ersten Shutdown, der ja eine gesellschaftlich singuläre Erfahrung für mindestens die letzte, wahrscheinlich auch die davor lebende Generation gewesen ist, wie wir den öffentlichen Raum nicht mehr betretbar gemacht haben und wie wir damit den Ort, in dem wir in Gesellschaft die Heterogenität und die Widersprüche, die unseren Alltag ausmachen, verhandeln und wie wir diesen Raum zugestellt haben und dann versucht haben, über digitale Surrogate zu versuchen, Alternativen dafür zu schaffen, die aber auch mehr oder minder leidlich funktioniert haben.
Diese Frage, wie gehen wir, auch das war eine Beobachtung von Nassehi, eigentlich damit um, dass wir dauernd Sätze sprechen, die jeder für sich richtig sind, aber die nicht zueinander passen, dass wir den Lockdown damals brauchten, dass er aber natürlich dramatische Folgen für die Wirtschaft hatte, dass er für Familien verheerende Folgen haben kann. – Alles das stimmt, passt aber nicht zusammen und lässt sich in dem Moment nicht auflösen.
Ich glaube schon, dass wir als Gesellschaft lernen müssen, Methoden und Mechanismen des Umgangs mit solchen Ungewissheits- und Unsicherheitssituationen besser auszuprägen, als es in der Vergangenheit der Fall war - das Stichwort da ist Resilienz. Bis heute sind die Leute nachgerade gekränkt ob des Umstandes, dass sie ihr Verhalten verändern mussten, weil eine solche externe Bedrohung in unsere Gesellschaft hineingebrochen ist.
Aus dieser Kränkung müssen wir raus und ein vernünftiges Umgehen damit lernen und überlegen: Wie kriegen wir das jetzt gemeinsam hin?

Mit Widersprüchen leben

Deutschlandfunk Kultur: Ist denn das eine Kränkung oder ist dieser Shutdown mehr oder weniger eine Notoperation am offenen Herzen der Zivilgesellschaft gewesen?
Brosda: Auch da wieder: Beide Sätze stimmen. Ich glaube, aus einer soziologischen Makroperspektive, wenn Sie auf die Gesellschaft gucken, ist es natürlich eine Notoperation gewesen. Das war, um das böse Wort zu verwenden, "alternativlos". Es gab auch nicht die Situation, in der man jetzt gesagt hätte: "Lasst uns darüber mal ein sechswöchiges bundesweites Diskurskolloquium führen und dann entscheiden wir". Sondern es musste in dieser Situation gehandelt werden. Und es war schon ganz beruhigend, dass der Staat in Deutschland so handlungsfähig ist, das auch zu tun, und wir als Gesellschaft auch in der Lage sind, dem Staat so viel Vertrauen entgegenzubringen, dass wir uns daran dann auch halten.
Aber auf einer individuellen Ebene ist das natürlich eine narzisstische Kränkung. Ich meine, wir haben uns vor einem Jahr vielfach unangreifbar gefühlt. Wir haben uns geriert wie die Krone der Schöpfung, die durch die Evolutionsgeschichte stapft und glaubt, alles ist ihr untertan und wir können die Dinge bestimmen und wir haben sie in der Hand.
Und dann kommt ein Virus aus China, und wir wissen bis heute nicht, ob es daher kommt, dass jemand eine Fledermaussuppe auf dem Markt gegessen hat. Und drei Monate später tanzen die gesamten Weltverhältnisse und nichts passt mehr zueinander. Da sind so viele Gewissheiten binnen so kurzer Zeit so tiefgreifend erschüttert gewesen, dass das in vielen Menschen – und das merkt man auch jetzt noch – ordentlich laboriert. Selbst wenn das gerade in diesen Sommermonaten so ein bisschen wieder nach hinten gekommen ist, merkt man ja jetzt schon, wie es wiederkommt.
Wenn wir jetzt durch die Social-Media-Profile dieser Woche gehen, sehen wir diese gleichen Debatten, die wir im März hatten, als die Leute noch, wenn man so will, im Ausnahmezustand nach Ausgangssperren nachgerade gerufen haben. Und das beginnt jetzt wieder, dass wir wieder die Situation haben, wo die Leute im Prinzip sagen: "Sperrt uns ein. Wir sind selber nicht schlau genug, damit umzugehen." Das sind ganz merkwürdige Reaktionsmechanismen.

Neue Politik der Solidarität

Deutschlandfunk Kultur: Wie kommen wir da raus? Welche Debatten müssen wir da dringend führen?
Brosda: Na, ich glaube zum einen müssten wir anerkennen, dass wir verletzlich sind. Daraus folgt hoffentlich die höhere Einsicht, dass wir nicht der Natur äußerlich sind, sondern dass wir Teil der Natur sind. Das wird eine ganz erhebliche Auswirkung auch darauf haben, wie wir künftig auf Ökologie gucken werden. Und das hat hoffentlich auch was damit zu tun, wie wir uns selbst in sozialen und in natürlichen Bezügen anders betrachten, als wir das bisher gemacht haben.
Die Kehrseite dazu ist: Begreifen wir es endlich, dass dieser alte Satz, den wir spätestens seit Thatcher irgendwie alle gelernt und – es scheint ja so – für richtig gehalten haben, dass, wenn jeder an sich selbst denkt, irgendwie an alle gedacht ist, dass dieser Satz empirisch betrachtet so gar nicht stimmt in der jetzigen Situation, sondern wir tatsächlich dazu aufgefordert sind, achtsam miteinander umzugehen und solidarische Strukturen in einer Gesellschaft wieder zu aktivieren, also Dinge zu tun für andere, wissend, dass ich nur dann glaubwürdig hoffen kann, dass andere die gleichen Dinge auch für mich tun.
Maskentragen ist dafür das symbolisch sicherlich prägnanteste Beispiel, aber es gibt viele, viele andere mehr. Diese Solidarität innerhalb einer Gesellschaft wieder zu einer Ressource zu machen, ist auch etwas, was nach den Jahrzehnten der Verengung der Verantwortung auf den Einzelnen eine ganz notwendige gesellschaftliche und politische Debatte sein wird.
Deutschlandfunk Kultur: Das klingt sehr optimistisch. Aber wenn man sich das Maske-Tragen mal so richtig anschaut, dann wird das zwar oft gut gemacht, aber oft auch nur so halbherzig. Je enger der Radius wird, heißt es: "Ach, jetzt nehmen wir die Maske mal ab, man kann ja darunter nicht atmen, kann keinen Sport treiben und so was". Individuelle Bedürfnisse spielen da eine große Rolle: Hedonismus, Sehnsucht und vielleicht auch eine gewisse Art von Regelübertretung. Da kann man dann natürlich sagen: "Solidarität ist natürlich eine hübsche Sache, wenn man sie fordert." Wenn man sie dann praktisch einhalten muss, kostet es eben auch was.
Brosda: Ja natürlich kostet sie was. Vor allen Dingen weiß ich nicht, ob ich für den Preis, den ich zahle, auch was wiederbekomme. Das ist dann das Vertrauen in eine Gesellschaft, das sich ja auch entwickeln muss. Tatsächlich haben Sie völlig recht. Man möchte immer allen Menschen entgegenrufen, dass es nicht umsonst "Mund-Nasen"-Schutz heißt, weil gerade der Umstand, dass die Nase auch unter den Stoff gehört, etwas ist, was vielen Menschen bis heute noch nicht vollständig einsichtig zu sein scheint.
Aber wenn man bedenkt, wie fern uns diese Praxis des Masketragens noch vor einem halben oder einem Dreivierteljahr gewesen ist, dann sieht man auch, wie schnell und wie viel wir erreichen können und wie anpassungsfähig wir auch sind. Noch vor einem Jahr haben wir doch alle miteinander immer so halbwegs irritiert auf Touristinnen und Touristen aus asiatischen Ländern geschaut, in denen das schon seit Jahren und Jahrzehnten selbstverständlich ist, in der Öffentlichkeit eine Maske zu tragen, wenn man das Infektionsrisiko gering halten will. Da haben wir uns gefragt: Was machen die? Was soll das? Und jetzt auf einmal haben wir das als ziemlich flächendeckende Praxis in unserer Gesellschaft hinbekommen. Und das nach den ganzen wissenschaftlichen Debatten, ob es diesen Mund-Nasen-Schutz überhaupt braucht oder nicht.

Angemessener Lohn für Care-Berufe

Aber richtig ist: Ich muss Vertrauen haben in eine Gesellschaft, die sich miteinander darauf verständigt, dass wir das gemeinsam füreinander tun wollen. Das ist schon eine ganz andere Perspektive als die, die wir in den letzten Jahren in vielen, vielen anderen politischen Diskussionen immer wieder gehabt haben. Da war die entscheidende Frage: Was kommt für mich am Ende dabei raus? Und wenn man dann eine Mehrheit hatte von Leuten, die sagten, "da kommt für mich etwas bei raus, was für mich plausibel ist", dann war es plausibel, damit Wahlen zu gewinnen. Dann war es plausibel, politische Programme auf den Weg zu bringen.
Jetzt gehen wir in eine Debatte, in der wir fragen: Was wollen wir eigentlich gemeinsam? Wie wollen wir miteinander leben und wie wollen wir das hinbekommen, dass auch diejenigen, die sich gerade nicht um sich selber kümmern können, trotzdem aufgefangen werden? Sodass diejenigen, die in den sogenannten Care-Berufen sind und hart arbeiten, die beklatscht worden sind im März und April, dass die nicht nur beklatscht werden, sondern dass diese Menschen Solidarität tatsächlich dadurch spüren, dass wir gesellschaftlich sagen, wir bezahlen sie auch so wie es sich gehört an der Stelle. Und dass wir nicht nur wohlfeil sagen: "Das ist aber toll, was ihr macht und jetzt geht mal bitte wieder mit geringen Gehältern zur Arbeit uns sorgt dafür, dass wir überleben." Wir müssen erkennen, dass wir da wirklich auch an die Grundfesten, sowohl im Ökonomischen wie auch im Empathisch-Sozialen unseres Zusammenlebens ran müssen.
Deutschlandfunk Kultur: Ja, aber wenn wir auf die Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst blicken: Da wird schon darüber diskutiert, ob denn jetzt gerade Erzieherinnen und Erzieher auf die Straße gehen können, wenn es doch gerade eine Situation ist, in der die Kitas endlich mal offen sind.
Brosda: Natürlich bleibt das Recht an der Stelle immer noch da, sich auch in Arbeitskämpfen auseinanderzusetzen. Das müssen wir miteinander hinbekommen. Die Frage ist eher: Muss ich nicht noch präziser und spezifischer werden? Und brauche ich auch in den Bürojobs mit einer sicheren Job-Perspektive jetzt Gehaltserhöhungen angesichts des Stresses, in den staatliche Haushalte kommen? Oder kann man das nicht dann auch präzise auf die Bereiche fokussieren, in denen wir vielleicht schon damit anfangen, dass es gar nicht mehr um die Frage geht, wie viel ich in der jeweiligen Gehaltsgruppe verdiene, sondern mich auch fragen muss: Sind eigentlich die Gehaltsgruppen die richtigen?
Da werden die Diskussionen präziser werden müssen als sie es noch vor einem halben oder einem Jahr gewesen sind. Übrigens: All die Diskussionen um das Virus müssen präziser werden. Wir sind ja auch lange raus aus dieser Frage, ob wir in einen neuen Lockdown gehen, sondern wir lernen ja, wir wissen ja mehr und wir können deswegen auch sehr spezifisch auf Einzelbereiche richtig handeln. Das müssen wir uns als Gesellschaft insgesamt auch erarbeiten.
Manchmal drücken wir uns ein bisschen davor weg, indem wir dann in so einer Form von Whataboutism auf das knapp daneben liegende Beispiel hin sagen: "Guck mal, da geht’s doch auch nicht!" Anstatt dann die Entscheidung zu treffen in dem Bereich, in dem es aber gehen muss.

Solidarität darf etwas kosten

Deutschlandfunk Kultur: Aber wo geht’s denn genau bei der Solidarität? Wir haben natürlich gelernt in Corona-Zeiten, dass Solidarität auch ein privates Prinzip ist. Man hilft der Nachbarin beim Einkaufen. Oder man betreut die Kinder zusammen, damit einer arbeiten gehen kann oder zwei oder drei, wenn man mehrere Familien zusammengezogen hat. Das wird aber dann privatisiert. Wie kann das zu einer gesellschaftlichen Institutionalisierung führen, in Institutionen verankert, in Gesetze gegossen werden, um konkret zu werden?
Brosda: Ich glaube, die Frage des sozialen Umgangs mit der Solidarität ist schon eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass man Dinge in Gesetze gießen kann. Dafür brauche ich ja eine Mehrheit in Gesellschaft. Und das fängt schon damit an, dass wir die Fähigkeit nicht verlieren, uns in andere Lebenssituationen hineinzudenken und auch hineinzufühlen. Tatsächlich war das Irritierendste für mich in dieser ganzen Zeit, seit wir mit Corona in der Gesellschaft umgehen, mit welcher Vehemenz Menschen im März und April danach gerufen haben, eingesperrt zu werden. Sascha Lobo hat das im "Spiegel" mal so schön "Vernunftpanik" genannt nach dem Muster: Die anderen sind nicht so vernünftig wie ich. Deswegen muss der Staat jetzt durchsetzen, dass sie genauso handeln, obwohl sie die Einsicht nicht entwickeln. Man muss jetzt die einsperren.
Was dabei gerne im Hintergrund war, aber übersehen worden ist, ist, dass wir dann soziale Differenzen haben, dass ich natürlich aus einer großen Altbauwohnung in einem urbanen innerstädtischen Gebiet mit Jobs, die ich im Homeoffice erledigen kann, ganz anders auf so eine Perspektive gucke als jemand, der jeden Tag in den Supermarkt an die Kasse oder ins Krankenhaus auf die Intensivstation muss, um zu arbeiten. Und dass derjenige, der das muss, danach aber heilfroh ist, wenn er mal eine halbe Stunde mit den Kindern, die vielleicht den ganzen Tag alleine waren, dann auch noch durch den Park gehen kann. Und wenn dann diejenigen vom Balkon, um das mal jetzt mal böse zuzuspitzen, mit dem gelieferten Prosecco in der Hand rufen, "Geh endlich nach Hause, du steckst die Leute an!", dann fehlt uns da eine ganze Menge an Empathie, eine ganze Menge an Solidaritätsbefähigung.
Diese ist aber der erste Schritt und die lässt sich auch nicht alleine dadurch beseitigen, dass man sich dann um 21.00 Uhr auf die Balkone stellt und klatscht. Sondern dann geht’s tatsächlich auch darum: Sind wir bereit, zum Beispiel, wenn wir über eine Pflegeversicherungsreform reden, auch das Geld ins System zu bringen über die entsprechenden Beiträge, die dann auch zu zahlen sind, damit die Leute, die in der Pflege arbeiten, auch vernünftig bezahlt werden können? Das sind dann ganz konkrete Auswirkungen, wo solidarische Strukturen auch heißen: Ich gebe etwas mehr ab, aber es ist mir das wert. Natürlich staffelt man das sozial und macht das angepasst an die Gehälter, aber ich sorge dafür, dass ich die Situation schaffe, dass Menschen auch monetär zum Ausdruck bringen können, dass ihre Arbeit etwas wert ist.
Deutschlandfunk Kultur: Das ist Umverteilung.
Brosda: Das wäre in der Tat dann auch Umverteilung, beziehungsweise es wäre ehrlicherweise eigentlich die ordentliche Bezahlung ordentlicher Leistungen. Es kann ja nicht sein, dass ich sage, "das ist so wichtig, das ist so systemrelevant, aber ich gehe mal davon aus, dass, weil es systemrelevant ist, Menschen das aus intrinsischer Motivation heraus tun."
Die Alternative wäre eine Privatisierung, in der Teile, nämlich diejenigen, die es sich leisten können, auch die entsprechende Versorgung bekommen, und die anderen zusehen müssen, wie sie klarkommen. Was das bedeutet, können wir in den USA gerade sehen. Ich glaube, da wollen wir nicht hin.

Politik und die Logik des Kapitalismus

Deutschlandfunk Kultur: Sie haben eben die Privatisierung schon angesprochen. Das heißt, wir müssen auch über die Logik des Kapitalismus nachdenken, wie ich aus Ihrem Buch gelernt habe, und zwar dahingehend, dass der Kapitalismus, also das privatwirtschaftliche Engagement, bestimmte Bereiche nicht kolonialisieren darf.
Wir haben jetzt aber in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Privatisierungen erlebt. Daseinsvorsorge wird immer mehr in die privaten Rentensysteme gesteuert und nicht von einer sozialstaatlichen Seite zentral organisiert. Medizin ist stark privatisiert worden. Bei der Bildung ist es nicht anders. – Wie sollen wir denn über Kapitalismus nach Corona nachdenken, wenn wir auf einem Berg von Schulden sitzen, den gerade die Coronakrise mit angehäuft hat?
Brosda: Das Entscheidende ist erstmal, dass wir anerkennen, dass Märkte nichts Naturwüchsiges sind. Ich glaube, das ist das, was wir in diesen gesellschaftlichen Debatten häufig durcheinander bringen. Wir sitzen dem Irrglauben auf, den einige durchaus auch bewusst in die gesellschaftliche Debatte gestreut haben, dass der Markt so eine Form von natürlichem Mechanismus zur Allokation der Ressourcen ist.
Das ist aber nicht wahr. Er ist eine gesellschaftliche Verabredung, die wir miteinander treffen, indem wir sagen: Über diese Tauschbeziehung, die der Markt ermöglicht, und über den Kapitalismus, wenn ich noch Geld dahinter lege, schaffe ich dort die bestmögliche Allokation. Das setzt aber voraus, dass wir den politischen, sozialen und kulturellen Rahmen eines Marktes gemeinsam miteinander verabreden und vereinbaren. Aus dieser Verantwortung dürfen wir uns gesellschaftlich und politisch nicht rausdrücken.
Es hat schon etwas elementar Wichtiges in unserer Zeit, zu sagen: Wenn ich sage, etwas soll marktwirtschaftlich organisiert werden – und an vielen Stellen ist der Markt ein sehr vernünftiges Prinzip, das zu organisieren – , dann bestimmen wir aber die Regeln, nach denen er das kann. Und dann bestimmen wir auch die Grenzen, nach denen das geht. Bei den von Ihnen angesprochenen Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge müssen wir dann schon sehr genau gucken: Ergibt eine Privatisierung Sinn?
Wenn wir den marktwirtschaftlichen Ratschlägen gefolgt wären, dann hätten wir vor zwei Jahren begonnen, Bettenkapazitäten in den deutschen Krankenhäusern abzubauen, weil uns die Bertelsmann-Stiftung aufgeschrieben hat, dass wir die nicht brauchen, dass das alles überflüssig sei, dass das unwirtschaftlich und unrentabel sei. Stattdessen haben wir in diesem Jahr das Gegenteil gemacht. Wir haben sie aufgebaut, weil wir gesehen haben: Wir brauchen diese Überkapazitäten, um in einer Krisensituation schnell handlungsfähig zu sein.

Marktwirtschaft muss reguliert werden

Dann kann es sein, dass eine Gesellschaft eine Entscheidung trifft, die nach reinen marktwirtschaftlichen Kriterien unrentabel ist, die aber trotzdem aus vielen anderen Kriterien heraus als sinnvoll betrachtet werden kann. Diese Fähigkeit, diese politische Entscheidung zu treffen, müssen wir uns als Gesellschaft erhalten und da, wo wir sie aus der Hand gegeben haben, vielleicht auch zurück erkämpfen, ohne dass wir damit gleich eine Diskussion über Verstaatlichung und Sozialismus führen müssen. Dazu habe ich auch gar keine Lust.
Aber wenn Marktwirtschaft funktionieren soll, dann braucht sie Regeln. Dann müssen wir uns auf diese Regeln verständigen und auch in der Lage sein, gesellschaftlich diese Debatte zu führen und nicht quasi da abzubrechen, wo jemand sagt: "Ja, aber das ist nicht rentabel." Oder: "Ja, aber das verstößt gegen das marktwirtschaftliche Prinzip." – Ja, das mag so sein, aber genau deswegen brauchen wir es.
Ein Beispiel: In Hamburg haben wir während des Lockdowns, als wir besonders intensiv darauf geachtet haben, dass Menschen sich jetzt nicht zu nahe kommen, beschlossen, dass wir die Frequenz im Öffentlichen Personennahverkehr auf manchen Strecken tatsächlich erhöht haben, obwohl nur ein Bruchteil der Passagiere unterwegs war. Das war eine völlig unrentable Entscheidung, aber es war eine Entscheidung, die dem Gesundheitsschutz diente. Das war notwendig, aber es war nach marktwirtschaftlichen, nach betriebswirtschaftlichen Kriterien überhaupt nicht zu rechtfertigen, aber aus ganz vielen anderen Positionen heraus unglaublich sinnvoll.
So etwas müssen wir miteinander hinbekommen und uns als Staat in die Lage versetzen, solche Entscheidungen treffen zu können.

Die Rolle des Staates hat sich verändert

Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, die Rolle des Staates verändert sich radikal in Coronazeiten. Viele nehmen den Staat ja als stärker steuernd wahr, als es vorher der Fall war. Da hieß es ja oft, der Staat solle sich möglichst weit raushalten. Vieles wird so organisiert, dass der Staat eigentlich nur dann eingreifen muss, wenn die Freiheit des jeweils anderen oder die eigene Freiheit bedroht ist.
Brosda: Im Prinzip ja – und ehrlicherweise ja schon das dritte Mal in gut einer Dekade. Wir hatten das erste Mal ein starkes staatliches Eingreifen 2008, 2009 nach der Wirtschafts- und Finanzkrise, wo wir auch schon mal mit Kurzarbeit und mit sehr erheblichen Interventionen vor allem die Finanzmärkte und die Wirtschaft gestützt haben. Dann haben wir es nochmal gehabt 2015, 2016, als über die Balkanroute und über das Mittelmeer viele Menschen zu uns gekommen sind und wir Hunderttausende von Geflüchteten aufnehmen mussten. Auch da haben wir gesehen, bis in welche Verästelungen hinein noch auf der Landes- und der kommunalen Ebene staatliche Strukturen funktioniert haben, häufig im Schulterschluss mit der Zivilgesellschaft.
Und wir erleben es jetzt zum dritten Mal, wie wichtig und wie vertrauenswürdig offensichtlich der Staat von Bürgerinnen und Bürgern immer noch angesehen wird. Wir müssen jetzt einerseits schauen, dass wir uns dieses – finde ich – für Politik durchaus relevante Gefühl erhalten und dieses Vertrauen nicht verspielen. Deswegen ist auch wichtig, dass das, was wir jetzt machen, plausibel, nachvollziehbar und hoffentlich etwas weniger chaotisch ist als Sie das vorhin beschrieben haben.
Deutschlandfunk Kultur: Schauen Sie sich doch diese Woche mal die innerdeutschen Reiseregelungen an. Was daran ist denn gerade nicht chaotisch?
Brosda: Sagen wir mal so: Der Überblick ist gerade schwer zu erreichen. Das ist richtig. Andererseits fragt man sich immer, und das ist ja durchaus auch etwas, was viele, die auf den Föderalismus blicken, sagen: "Seid froh, dass ihr das so habt. Nehmt diese Kakophonien, die ihr am Anfang kurzfristig produziert, in Kauf, weil ihr zumindest in dem Gespräch darüber, wie ihr das dann vereinheitlicht, vorher die verschiedenen Fehler und die verschiedenen Positionen, die man einnehmen kann, äußert und dann wegdiskutieren könnt. Stellt euch mal vor, einer entscheidet. Dann ist es zwar eindeutig, aber vielleicht auch falsch." Deswegen kann da durchaus auch etwas drin liegen, wenn wir es denn schaffen, aus diesen Verhandlungen zwischen 16 Ländern und dem Bund, dann wieder zu einheitlichen Positionen zu kommen. Wenn wir zurück schauen: Seit März gab es diese Phasen, in denen wir dachten: Was passiert denn jetzt hier immer wieder mal? Wenn man aber jetzt darauf blickt, waren das immer so zwei, drei, maximal vier Tage. Dann hatte sich das wieder in einen Korridor hinein sortiert, den alle wieder nachvollziehbar und plausibel fanden.
Und dass dann natürlich Länder auch sagen, wir haben ein anderes Infektionsgeschehen als andere und deswegen gehen wir damit anders um, ist auch plausibel und vernünftig. Wir brauchen in einem 82-Millionen-Land nicht überall vereinheitlichte Regeln. Was wir brauchen, sind nachvollziehbare und vereinheitlichte Kriterien, nach denen dann auch unterschiedliche Bewertungen unterschiedlicher Situationen vor Ort erfolgen können. Die müssen permanent angepasst werden. Und das Problem, das wir haben, ist: Keiner hat ein Drehbuch in der Tasche, das er herausziehen und sagen kann: Okay, da sind wir jetzt. Das ist das Nächste, was wir machen müssen. Sondern in diesen Bildern aus der Epidemiologie, wo es dann ja heißt, "es gibt einmal den Hammer, der fällt", das war der Lockdown im Frühjahr, und dann kommt der "Tanz", der eine ganze Zeit dauern kann, bis man da wieder aus dem medizinischen Loch kommt" – dann sind wir jetzt in dieser Tanzphase.
Die heißt: Wir sind auf sehr "kabbeligem" Wasser. Es gibt Ausbruchsgeschehen. Da muss reagiert werden. Aber es sind kleinteilige Maßnahmen, die dann auch kleinteilig wirken und vielleicht auch kleinteilig wirken müssen und dann auch ein bisschen für Verunsicherung sorgen. Je besser wir das nachvollziehbar bekommen, desto leichter wird es für Bürgerinnen und Bürger nachzuvollziehen, warum das sinnvoll ist, was der Staat da tut.
Warum das dann den bayerischen Ministerpräsidenten dazu veranlasst, Berlin besonders hart zu kritisieren, das muss er selber beantworten.

Wissenschaft berät, Politik entscheidet

Deutschlandfunk Kultur: An der Stärkung staatlichen Handelns als Organ der Gesellschaft könnte man ja zweierlei beobachten. Auf der einen Seite ist staatliches Handeln im Augenblick nationalstaatliches Handeln. Ich glaube aber, dass uns das bei einem globalen Virus nicht wirklich weiter bringt. Die andere Beobachtung ist, dass wir manchmal den Eindruck haben, dass wir nicht von der Bundesregierung, sondern vom Robert Koch-Institut regiert werden. Das heißt also, die Wissenschaft hat im Moment eine ganz andere Rolle als vor der Pandemie.
Brosda: Ja, weil Letzteres durchaus ja auch was Beruhigendes hat, weil, wie das aussieht, wenn die Wissenschaft keine Rolle hat, ..
Deutschlandfunk Kultur: ... was wir in den USA gerade wieder sehen …
Brosda: … dann nehme ich doch das Robert Koch-Institut mit Kusshand. Auch da sind wir natürlich in einer Situation, in der wir auf der zweiten Umdrehung gesellschaftlich dann ein Problem bekommen. Und das müssen wir noch miteinander lernen.
Ich war schon arg verdutzt, als einige Ministerpräsidenten sich in Talkshows gesetzt und gesagt haben: "Na, die Wissenschaftler ändern ja auch permanent ihre Meinung." Das tun sie gar nicht, sondern die Wissenschaftler lernen und verändern ihre Erkenntnisse und erweitern ihre Erkenntnisse und ziehen daraus dann vielleicht auch veränderte Schlussfolgerungen. In diesem Prozess sind wir jetzt als Gesellschaft live dabei. Normalerweise kriegen wir das immer, wenn man durch ist mit dem Forschungsdesign, weil es nicht so erheblich ist für unser alltägliches Leben. In diesem Fall war es das aber.
Es ist schon sehr wichtig, dass wir auf Wissenschaft hören. Es ist aber genauso wichtig, dass wir nicht den Fehler machen so zu tun, als ob jetzt Wissenschaftler quasi an die Stelle von Politikerinnen und Politikern träten. Die können unsere Entscheidungen informierter machen. Sie können uns mit Fakten, Daten und Analysemodellen schlauer machen. Aber die Verantwortung, daraus dann politische Entscheidungen zu treffen, die tragen schon wir selbst. Ein Virologe schaut natürlich auf das Virus, ein Epidemiologe auf das Infektionsgeschehen innerhalb einer Gesellschaft. Aber den Abgleich mit bildungspolitischen Fragen, mit kulturpolitischen Fragen, mit sozialpolitischen Fragen macht kein Mediziner. Das müssen andere machen. Und Politik muss sich in die Lage versetzen, diese unterschiedlichen Perspektiven zueinander in Beziehung zu setzen.
Das ist eine Aufgabe, vor der können und dürfen sich Politikerinnen und Politiker nicht drücken. Und die müssen sie auch in die gesellschaftliche Debatte bringen. Ich glaube, da werden wir langsam besser –

Nationalstaatliche Politik hilft nicht weiter

Deutschlandfunk Kultur: – scheitern, scheitern, besser scheitern?
Brosda: Auch das. Politik hat immer was mit Scheitern zu tun. Und Samuel Beckett, der das sagte, hat da schon einen Punkt. Aber ich glaube nicht, dass wir nur scheitern. Sondern wir lernen, das, was Nassehi beschrieben hat, auszuhalten – dass da verschiedene Positionen und Perspektiven auf die jetzige Situation bestehen, die nicht zueinander passen, die wir aber in einen Bereich bringen müssen, in dem die Widersprüche für uns aushaltbar sind und wir sagen: Wir tragen auch die Unsicherheiten, die sich daraus ergeben.
Das Zweite, was Sie angesprochen haben: Was passiert eigentlich mit der Dimension des Internationalen in diesem Bereich? Natürlich stellen wir fest, wo derzeit staatliche Handlungsmacht verortet ist. Das sind eben noch die nationalstaatlichen oder regionalstaatlichen Regierungen und in viel weniger großem Ausmaß die internationalen Organisationen und auch die Europäische Union – und das in einer Situation, in der wir vor einer globalen Bedrohung stehen. Ich glaube, wir nehmen aus dieser Krise sicherlich auch das Bewusstsein dafür mit, dass wir auch unsere internationalen politischen Organisationen so weit stärken, dass sie handlungsfähig werden, wenn wir vor globalen Herausforderungen stehen. Weil: Da ist schon das eine oder andere ziemlich unwürdig gewesen.
Der Umstand, dass die USA es ausgerechnet jetzt für notwendig erachten, aus der Weltgesundheitsorganisation auszutreten oder dort ihre Beiträge zu stoppen, ist vielleicht nur die Spitze des Eisbergs. Da gibt es sehr viele Bereiche, bei denen man sich schon gefragt hat: Warum schaffen wir es im Angesicht einer globalen Bedrohung eigentlich nicht, auch eine globale politische Perspektive zu entwickeln oder zumindest Verhandlungsräume zu öffnen, in denen wir voneinander lernen, und in denen wir das, was am anderen Ende der Welt vielleicht erarbeitet worden ist, auch an anderer Stelle nutzbar und fruchtbar machen können? Da haben wir uns schon vielfach relativ borniert gezeigt.

Kultur ist notwendig

Deutschlandfunk Kultur: Herr Brosda, zum Ende unseres Gesprächs möchte ich Sie noch auf Ihr eigenes Gebiet, Ihr eigenes Ressort ansprechen. Sie sind Hamburger Kultursenator. Der Grünen-Chef Robert Habeck hat bei uns auf dem Sender in dieser Woche beim Gespräch über einen Zehnpunkteplan für Kultur gesagt, wenn das in der Coronazeit so weitergehe, gibt es am Ende keine Veranstaltungsbranche mehr und die Kultur liegt am Boden. Was tun Sie dagegen?
Brosda: Ganz konkret ist es in Hamburg so, dass wir allein in diesem Jahr schon ein Drittel des Kulturetats zusätzlich ausgegeben haben, um das nicht geschehen zu lassen. Seit Veranstaltungen wieder möglich sind, sind wir sehr intensiv dabei, bei denjenigen, die veranstalten, die Wirtschaftlichkeitslücke zu schließen, weil wir natürlich hundert Prozent der Kosten, aber momentan nur ein Drittel bis ein Viertel der Einnahmen haben.
Wenn wir als Gesellschaft sagen, dass uns Kultur trotzdem wichtig ist, dann müssen wir in dieser Phase auch dafür sorgen, dass sie stattfinden kann. Und das machen wir sehr intensiv und mit sehr viel Geld, aber nicht nur mit Geld, sondern vor allem auch mit dem klaren Signal: Wir brauchen jetzt Künstlerinnen und Künstler. Wir brauchen jetzt künstlerische und kulturelle Intervention. Wenn wir an diese Fragen herangehen, dann ist unerträglich, mir eine Gesellschaft vorzustellen, in der wir nicht dieses wilde Denken der Kunst mit in die Verständigungsprozesse darüber hineinholen, wie wir eigentlich künftig miteinander leben wollen. Gerade das Spekulative und das Ästhetisch-Expressive ist etwas, was uns bereichern kann und wozu wir meistens aus der Politik heraus sowieso schon mal gar nicht, aber auch gesellschaftlich nur eingeschränkt fähig sind.
Diese Intervention brauchen wir. Und wir würden furchtbar versagen, wenn wir als Politik nicht die kulturelle Dimension dessen, was jetzt gerade passiert, auch mit in den Blick nehmen würden, ja, sie sogar zentral mit in den Blick nehmen. Weil das, was wir tun müssen, um das Virus zu bekämpfen – die Beschränkungen öffentlicher Treffen –, die Kultur in ihrem Kern trifft. Und genau das ist es aber, was wir jetzt eigentlich brauchen. Deswegen müssen wir es an all den Stellen, an denen es geht, ermöglichen, dass kulturelle Produktion und kulturelles Erleben stattfinden können.
Wenn wir das schaffen, wenn wir daran weiter arbeiten und wenn im nächsten Jahr auch eine medizinische Behandelbarkeit da ist, und wir dann zu so etwas wie einem Normalzustand zurückkehren können, der aber anders aussehen wird als der Status quo ante, dann muss es uns auch gelingen, die Institutionen über diese Zeit zu bringen. Das ist das Zentrale: dass wir die Strukturen des kulturellen Lebens durch diese Zeit hindurch bekommen.
Das setzt aber voraus, dass wir auch da gesellschaftlich sagen: Uns sind Kunst und Kultur so wichtig, dass wir die Ressourcen, die es dafür braucht – in der Regel ist das viel Geld –, auch tatsächlich aufbringen.
In Hamburg passiert das. Der Bund hat eine Milliarde auf den Tisch gelegt, von der ich mir manchmal wünschte, dass sie etwas flexibler und vor allen Dingen schneller auch auf den Platz käme und auch das Nachdenken darüber, ob es reicht, passieren würde. Wo Habeck recht hat, ist, dass wir im Bereich der privatwirtschaftlichen Veranstaltungs- und Eventbranche tatsächlich nochmal nachlegen müssen. Da sind wir noch nicht an dem Punkt, an dem wir sein sollten. Dazu braucht es aber bundesweite Regelungen, weil es da in der Regel auch um bundesweite Veranstaltungen geht. Da wird noch sicherlich darüber zu reden sein, wie wir dort besser und präziser noch helfen.
Deutschlandfunk Kultur: Vielen Dank für das Gespräch

Buchtipp:

Carsten Brosda: "Ausnahme/Zustand"
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
125 Seiten, 15,00 Euro

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