Aus der Heimat vertrieben

Rezensiert von Cora Stephan · 27.04.2007
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Grenzen in Osteuropa neu gezogen. Nicht nur Deutsche wurden Opfer einer gigantischen Vertreibungswelle, auch Polen und Ukrainer wurden aus ihrer alten Heimat davongejagt. Helga Hirsch hat in "Entwurzelt" die Schicksale einiger Betroffener festgehalten.
Soviel Geschichte passt nicht in ein einziges Buch. Wahrscheinlich reichten noch nicht einmal zehn für das, was Helga Hirsch gesammelt hat und vor dem Leser ausbreitet: das Geschick von Flüchtenden oder Vertriebenen in der Bugwelle des Zweiten Weltkrieg – jedes Schicksal einzigartig und dennoch beispielhaft für das von Millionen von Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, ob das die Ukraine war oder Deutschland, Weißrussland oder Polen. Eine Heimat irgendwo im weiten europäischen Raum zwischen Oder und Bug, den Hitler, Stalin und die kleinen und großen Nationalisten zu einem gigantischen Verschiebebahnhof gemacht hatten.

Am Ende des gerade mal knapp 300 Seiten starken Buches der Journalistin und früheren Korrespondentin der "Zeit" in Warschau winkt zwar ein Happyend, aber soviel Schicksal auf so schmalem Raum lässt den Leser gerührt, erschüttert und erschöpft zurück, und man möchte mit der Autorin seufzen:

"Kaum eine Familie, die in Zweiten Weltkrieg nicht umgesiedelt wurde oder keinen Angehörigen zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich schicken musste. Kaum eine Familie, die, weil sie jüdisch war, nicht ins Konzentrationslager deportiert wurde. Die, weil sie ukrainisch war, nicht aus der südostpolnischen Heimat vertrieben wurde. Die, weil sie polnisch war, nicht mit Gewalt zur Ausreise aus der Ukraine, aus Weißrussland oder Litauen gedrängt wurde. Und die, weil sie deutsch war, nicht die alte ostdeutsche Heimat räumen musste, wenn sie nicht schon vor der Front geflohen war.
Manchmal drohten mich solche Geschichten zu überwältigen und zu überfordern. ... Wer war wann warum vor wem geflüchtet, oder wer war wann warum von wem deportiert oder ausgewiesen wurden?"

Da ist das Schicksal der Familie von Stefania aus dem ostpolnischen Kuropatniki. Dort leben vor dem Zweiten Weltkrieg 2640 Einwohner, drei Viertel davon Polen, ein Viertel Ukrainer. Erst rückt die Rote Armee ein, im Sommer 1941 kommen die Deutschen. Der latente Konflikt zwischen Polen und Ukrainern explodiert. Der Riss geht mitten durch die Familie Stefanias. Ihre Großmutter war Ukrainerin, der Großvater Pole, und traditionell werden die Töchter nach dem Glauben der Mutter und die Söhne nach dem Glauben der Väter getauft. Nur Onkel Michal wechselt, als er eine Ukrainerin heiratet, die Seite. Als Stefanias Onkel Joszef ermordet wird, bricht die Familie entzwei:

"Die Loyalität gegenüber der eigenen Volksgruppe wurde wichtiger als die Loyalität gegenüber den Familienmitgliedern. Das jedenfalls mutmaßte damals Stefanias Familie: dass Onkel Joszef, der Pole, umgebracht worden sei, weil er gesehen hatte, wie sein Bruder Michal, der Ukrainer, mit anderen Ukrainern bewaffnete Untergrundaktionen vorbereitete. ... Kann es also sein, dass der ’konvertierte’ Michal von dem geplanten Anschlag auf seinen Bruder gewusst hat? (...) Dass ihm die Loyalität gegenüber der ukrainischen Nationalbewegung wichtiger war als die Loyalität gegenüber seinem Bruder? All diese Fragen wurden nie geklärt."

Die ukrainisch empfindenden Angehörigen der Familie blieben, die römisch-katholischen Polen ließen sich "repatriieren" – in eine Heimat, die nie die ihre gewesen ist: Sie wurden im ehemals deutschen Pommern angesiedelt.
Während also die Polen aus den neuen Sowjetrepubliken zu verschwinden hatten, wies wiederum das neue Polen die dort beheimateten Ukrainer aus, in die ukrainische Sowjetrepublik, etwas, das ebenfalls nicht ohne Gewalt abging – diese Rolle übernahm das polnische Militär und polnische Untergrundeinheiten. Die einst ukrainische Familie Bodnar fühlt sich von diesem Schicksal noch heute verfolgt, obwohl sie schon seit Jahrzehnten im einstigen Krummkavel in der ehemaligen deutschen Neumark lebt. Wie sich die Ereignisse gleichen:

"Ukrainische Untergrundkämpfer überfielen polnische Dörfer und – nach dem Einmarsch der Sowjets – auch polnische Milizstationen, vertrieben oder töteten gar polnische Einwohner und setzten polnische Häuser in Brand: Das Land sollte für eine freie Ukraine vorbereitet sein.
Polnische Untergrundkämpfer und polnisches Militär überfielen ukrainische Dörfer, vertrieben oder töteten gar ukrainische Einwohner und zündeten ukrainische Häuser an: Im Land sollten nur noch Polen leben.
Jaroslaw Bodnar verbittert, wenn mit zweierlei Maß gemessen wird. Die Ukrainer wollten dasselbe wie der polnische Untergrund – einen eigenen, unabhängigen Staat. Warum soll der Kampf der einen patriotisch, moralisch gerechtfertigt, sogar heldenhaft, der Kampf der anderen aber kriminell und verbrecherisch gewesen sein?"

Darüber bestimmt der Sieger der Geschichte. Doch die damals errichteten nationalen Gründungslegenden brechen seit 1989 und mit dem Ende der vormals siegreichen Sowjetunion auf. Was die Deutschen hinter sich haben, steht vielen osteuropäischen Nachbarn noch bevor: der Abschied von den eigenen nationalistischen Mythen.

Diese Arbeit aber nimmt Helga Hirsch niemandem ab. Sie wertet nicht, sie erzählt von Schicksalen, doch gerade das wirkt. Nationalismus und Träume von völkischer Sauberkeit waren keine Leidenschaften der Deutschen allein. Stalin betrieb ethnische Säuberung ebenso wie manch andere Gruppierung, die im Schatten der großen Verbrecher ihr eigenes Spiel spielte, das sich höchstens in der Dimension des Verbrechens unterschied.

Relativiert diese Erkenntnis, die ja so neu nicht ist, auch nur irgendetwas, insbesondere deutsche Schuld? Nach der Lektüre dieses Buchs stellen sich solche Fragen nicht mehr. Aus der Vogelperspektive betrachtet, waren das Verschieben von Menschen und Staatsgrenzen nur Facetten einer gigantischen Umgestaltung Europas, die ältere nationalistische Begehrlichkeiten und stalinistische Umwälzungsphantasien verband. Nicht alles, was nach 1945 geschah, war ein Echo auf die brachiale Politik des Nationalsozialismus. Denn es gingen auch andere Wünsche als die nach womöglich legitimer Rache in Erfüllung.

Über Flucht und Vertreibung auch der Deutschen zu reden, ist nicht deshalb gefährlich, weil damit eigene Schuld und das Leiden der anderen verkleinert würden. Es braucht keine politisch korrekten Schmachtfetzen wie den Film "Die Flucht", um auch mit deutschen Opfern Mitleid zu empfinden. Das Mitleidendürfen verdankt sich vielmehr dem Abschied von einer Vorstellung, die Nationalsozialismus und Sozialismus teilten: dass individuelle Schicksale Schall und Rauch seien gegenüber dem großen Ganzen. Es verdankt sich dem Triumph des Menschenrechtsgedankens, wonach der einzelne unveräußerliche Rechte hat – auch das auf Heimat. Darin erst zeigt sich die Überwindung des Zeitalters der nationalistischen Verirrung.

Damit aber wird jene Legitimation brüchig, die sich auf den alles überwölbenden Mythos vom Sieg des Sozialismus über den an jeglichem Übel schuldigen Faschismus stützt. Seit dem Ende der Sowjetunion ist es zwar nicht mehr politisch "gefährlich", weil destabilisierend, über die Opfer nicht nur der Deutschen, sondern auch des Stalinismus zu reden, sind die eigenen Mythen keine Existenzfrage mehr, wonach man nur Opfer, aber niemals Täter war. Dennoch bleibt der antifaschistische Gründungsmythos hier und da ein Anker in Zeiten instabiler Identität. Helga Hirschs Buch ist eine mutige Aufforderung auch an unsere Nachbarn, der Realität ins Auge zu sehen, die nicht nur große Ziele und heldenhafte Kämpfe kennt, sondern viel banalere Dinge: nämlich alles, was menschenmöglich ist, und das umfasst nun mal Größe und Schäbigkeit zugleich.

Begibt man sich auf die Ebene der Einzelschicksale, wird alles einfacher und komplizierter zugleich. Komplizierter, weil jedes Individuum die großen Ideen relativiert und damit die einfachen Lösungen negiert. Über Aggregate und Kollektive lassen sich verallgemeinernde Aussagen treffen, gegen die ein Einzelschicksal rebelliert. Doch das ist das einzige, was am Ende zählt.

Dass Elvira und Fortunat sich 1946 trennen mussten und erst fast sechzig Jahren später heiraten konnten, hat keinerlei tieferen Grund gehabt und gewiss keine historische Notwendigkeit und es gibt nichts, gar nichts auf der Welt, das dieses Opfer des privaten Glücks rechtfertigen könnte:

"Da traten dem Bräutigam Tränen in die Augen, er schlug die Hände vor das Gesicht. (...) Warum hatte die Politik die Macht besessen, sie auseinander zutreiben, nur weil Elvira eine Deutsche und er ein Pole war? Warum hatten sie Jahrzehnte ihres Lebens ohne einander verbringen müssen? Warum hatte diese Hochzeit nicht vor sechzig Jahren stattfinden können?"

Es gibt darauf keine vernünftige Antwort. Und dass das so ist – daran erkennt man, dass die Zeiten des Nationalismus vorbei sind.

Helga Hirsch: Entwurzelt
Vom Verlust der Heimat zwischen Oder und Bug

Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2007