Aus den Feuilletons

Zuhörerin, Menschenaufschreiberin, Wahrheitssucherin

Die weißrussische Schriftstellerin und Journalistin Swetlana Alexijewitsch nach der Bekanntgabe der Vergabe des Literaturnobelpreises an sie bei der Ankunft zu einer Pressekonferenz in Minsk, aufgenommen am 8.10.2015
Manchem Feuilletonisten merkte man die Unvertrautheit mit dem Werk Swetlana Alexijewitschs an. © picture-alliance / dpa / Tatyana Zenkovich
Von Arno Orzessek · 08.10.2015
Top-Thema der Feuilletons ist die Vergabe des Literaturnobelpreises an Swetlana Alexijewitsch. Diese vergleicht ihre Arbeitsweise mit der einer Musikerin, erfahren wir in der "SZ" – und ist in Minsk beim Bügeln von der Entscheidung überrascht worden, weiß der "Tagesspiegel".
Sie vermuten richtig, liebe Hörer: Dass Swetlana Alexijewitsch in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur erhält, ist natürlich das Top-Thema in den Feuilletons.
Trotzdem zunächst zu Angela Merkel und ihrem – von vielen Seiten mit Beifall bedachten - Auftritt in der Talk-Show von Anne Will.
"Nun wissen wir, wer unsere Kanzlerin ist";
behauptet die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, zeigt sich ob ihrer frischen Erkenntnis allerdings bestürzt.
Beunruhigung über Merkels Mantra
Christian Geyer beklagt, dass Merkel mit Blick auf die ankommenden Flüchtlinge Zahlen für unwichtig erklärt hat - wörtlich sagte sie bei Anne Will, Zahlen seien "'egal'".
"Gerade wenn man keine ethnische, deutschtümelnde, xenophobe Debatte will (so Geyer), muss man über Zahlen reden. Eine Flüchtlingspolitik, die sich nicht um Zahlen schert und das auch noch ohne Wenn und Aber zum Programm erhebt, ist keine Politik mehr. Sie ist (vielmehr) Traum, Vision, Abenteuer, Nährboden für Ressentiment, Steilvorlage für alle, die nicht übers Machbare und seine Grenzen reden wollen, sondern über völkischen Unsinn beispielsweise."
FAZ-Autor Geyer ist sich nicht sicher, ob das mittlerweile weltberühmte Merkelsche Mantra "Wir schaffen das" eher eine Willensbekundung oder eher ein flockiges Versprechen darstellt. Doch ob so oder so: Geyers Stirn liegt in krausen Falten:
"Man ist zunehmend beunruhigt, dass die Zukunft des Landes an einer Person hängen soll. Gespensterstunden häufen sich."
Soviel zu Angela Merkel – nun zu Swetlana Alexijewitsch.
Dokumentarin mit der Arbeitsweise einer Musikerin
In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG firmiert die neue Nobelpreisträgerin als
"Die Menschenaufschreiberin".
Was wir womöglich für eine hübsche Überschrift gehalten hätten, wenn sie uns nicht intentionswidrig an Strafzettel erinnert hätte.
Tatsächlich bezeichnet Alexijewitsch ihre literarische Technik selbst als "Menschen aufschreiben". SZ-Autor Tim Neshitov erklärt, was damit genau gemeint ist.
"Alexijewitsch erfindet keine Charaktere und keine Handlungen. Sie schreibt dokumentarische Prosa, spricht mit Menschen, die etwas erlebt haben, meistens etwas überlebt haben, und protokolliert diese Gespräche. Ihre Themen sind die Abgründe des 20. Jahrhunderts, der Zweite Weltkrieg, der sowjetische Krieg in Afghanistan, die Atomkatastrophe in Tschernobyl, das postsowjetische Chaos. Alexijewitsch vergleicht ihre Arbeit mit der Arbeit eines Musikers, der erst der Welt zuhört, dem Chaos der Klänge, um dann aus diesen Klängen sein Werk zu komponieren."
Für die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG ist Alexijewitsch eine
"Wahrheitssucherin ohne Wenn und Aber".
Für uns indessen ist das, was Ilma Rakusa am Ende des Artikels festhält, ohne Wenn und Aber konfektionierte Literaturnobelpreisträger-Preisungsprosa.
"(Alexijewitschs) Interesse gilt – jenseits von nationalen und anderen Zuschreibungen – letztlich dem Menschen an sich, genauer: dem Menschlichen am Menschen. Wie lässt es sich vor gefährlichen Zugriffen bewahren? Und was vermag der Einzelne im Kampf für die Humanität?"
Wenn uns nicht alles täuscht, könnte man diese Zeilen auf ungefähr jeden dritten Literaturnobelpreisträger münzen.
In Minsk beim Bügeln überrascht
Aber sei's drum. Auch der Eloge des leidenschaftlichen Literaturkritikers Gregor Dotzauer vom Berliner TAGESSPIEGEL merkt man eine gewisse Unvertrautheit mit dem Werk der Geehrten an.
Was uns aber nicht daran hindert, Dotzauer als verlässlichen Journalisten zu zitieren:
"In Minsk, wo die 67-Jährige beim Bügeln von der Auszeichnung erfuhr, wird sie nun sicherer als bisher leben können – ganz gegen die Absichten von Präsident Alexander Lukaschenko, der ihre Bücher von den Lehrplänen streichen und verbieten ließ. Die weißrussische Regierung 'wird nun gezwungen sein, mir zuzuhören', sagte sie dem 'Svenska Dagbladet'. Alle anderen haben die Gelegenheit, es nun ganz und gar freiwillig zu tun – und als großen Gewinn zu erleben."
Wir wünschen Ihnen eine erquickliche Lektüre, liebe Hörer ...
Und verabschieden uns mit einem merkwürdigen russischen Sprichwort, dass Swetlana Alexijewitsch nach Auskunft der Tageszeitung DIE WELT gelegentlich im Munde führt. Es lautet:
"'Die Vergangenheit steht uns noch bevor.'"
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