Aus den Feuilletons

Zuckerbrot statt Peitsche

04:21 Minuten
Schwarzweißfotografie zeigt den Schriftsteller Christoph Ransmayer, der eine analoge Fotokamera auf den Betrachter richtet
Bitte lächeln – immerhin genießen Sie heute mehr Freiheit denn je. Sagt zumindest der Autor Christoph Ransmayr, der hier um Ihr Porträt bittet. © picture alliance/Imagno/Didi Sattmann
Von Tobias Wenzel · 26.03.2021
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Die deutsche Übersetzung der Gedichte Amanda Gormans enttäuscht den "Spiegel" auf ganzer Linie. Die "NZZ" weiß, wo die Feinde der Aufklärung lauern. Trost spendet der Schriftsteller Christoph Ransmayr: Die Freiheit sei so groß wie nie zuvor.
Von Freiheit und ihrem Verschwinden ist in den Feuilletons vom Samstag die Rede. Da macht sich Ernüchterung breit, und Hoffnung kommt ausgerechnet von einem Depressiven. Doch der Reihe nach.
"Sie hatte die Welt gegrüßt, und viele, so scheint es, hatten sie verstanden", schreibt der SPIEGEL über den Auftritt der jungen, schwarzen Dichterin und Aktivistin Amanda Gorman während der Amtseinführung von Joe Biden am 20. Januar. "Heute, gut zwei Monate später, ist vieles von diesem Geist verflogen."

Eine enttäuschende Übersetzung

Steffen Lüdke, Claudia Voigt und Volker Weidermann – die drei Autoren des Artikels – sind merklich enttäuscht. Aus zwei Gründen. Der erste ist die deutsche Übersetzung von Gormans weltberühmt gewordenen Gedichts "The Hill We Climb". Die Übersetzung "Den Hügel hinauf" sei "ernüchternd", heißt es im SPIEGEL: "Wenn man die deutschen Verse liest, fühlt man sich ein wenig wie nach einer Ice-Bucket-Challenge im Sommer: deutlich abgekühlt."
Es sei zwar besonders schwer, Spoken Word Poetry zu übersetzen. "Doch wo sind die Melodie, der Schwung, die Schönheit und Harmonie des Klangs?" Untergegangen in der politischen Korrektheit, könnte man als Leser frech vermuten. Denn der deutsche Verlag Hoffmann und Campe hatte der literarischen Übersetzerin Uda Strätling noch die deutsch-türkische Aktivistin Kübra Gümüşay und die schwarze Journalistin und Rassismus-Expertin Hadija Haruna-Oelker zur Seite gestellt.

Kritische Fragen bleiben unbeantwortet

Der zweite Grund der Enttäuschung: Amanda Gorman hat den SPIEGEL-Autoren kein richtiges Interview gegeben. Fragen mussten sie vorab schriftlich einreichen. Und Gorman hat dann die kritischen unbeantwortet gelassen.
Dabei hätten viele Leser sicher gerne erfahren, ob es wirklich in Gormans Sinne ist, wenn weiße Übersetzer und Übersetzerinnen gar nicht oder nicht allein ihre Verse übertragen dürfen.
"Es ist absurd", heißt es im SPIEGEL. "Ein Interview mit der Dichterin der Freiheit, des neuen 'Wir', wird auf diese Weise reglementiert?"

Feinde der Aufklärung

"Liberalismus, ade", ruft Josef Joffe, der Mitherausgeber der "Zeit", in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG aus. Der Feind der Freiheit sei der "weiche Totalitarismus". Statt Individualität herrsche Identität.
"Heute gilt, dass Falschdenk und Falschsprech Menschen und Karrieren vernichten – ohne fairen Prozess", schreibt Joffe, besonders mit Blick auf die USA. Vor allem dort halten sich so genannte Woke-Aktivisten für das Maß aller Dinge, während sie für Joffe Feinde der Aufklärung sind.
Aber nicht nur sie, auch der Wohlfahrt- bzw. der "Wohlfühlstaat", auch der deutsche: "Der gute Staat nutzt nicht Peitsche, sondern Zuckerbrot", schreibt Joffe. "Kommt, labt euch, und lasst uns machen. Der Staat wächst unaufhaltsam, wie die historischen Daten zeigen, und der autonome, selbstverantwortliche Mensch schrumpft."
Wenn Sie, liebe Hörer und Leser, nun keine Hoffnung mehr haben, dann kann nur noch ein depressiver Schriftsteller helfen.

Mehr Freiheit denn je

Im Interview mit Richard Kämmerlings von der WELT spricht der österreichische Autor Christoph Ransmayr zwar über seine Depression und seinen neuen, postapokalyptischen Roman, teilt aber die Untergangsstimmung Joffes überhaupt nicht: "Die Freiheit – zumindest in den Köpfen – ist groß wie niemals zuvor", sagt Ransmayr.
Und über den Umgang mit Corona: "Großer ökonomischer Druck ist doch dadurch entstanden, dass wir die Gefährdetsten, die Alten und Kranken zu schützen versuchen und ihnen Intensivplätze verfügbar halten wollen, wenn ihnen die Seuche den Atem nimmt. Das war noch vor kurzer Zeit, etwa in Österreich und Deutschland, völlig anders. Wer alt war, vielleicht auch noch leicht verrückt und keine Luft mehr bekam, war lebensunwert und wurde entsorgt. Jetzt ist eine ganze Gesellschaft bereit, die Wirtschaft herunterzufahren, um die Schwächsten zu schützen", so Ransmayr weiter in der WELT.
"Das habe ich an dieser Pandemie bemerkenswert gefunden. Kann es denn innerhalb weniger Jahrzehnte einen größeren Fortschritt geben?"
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