Aus den Feuilletons

Zu vertraulich und respektlos

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lässt sich am 10.09.2015 nach dem Besuch einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber der Arbeiterwohlfahrt (AWO) und der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Berlin-Spandau für ein Selfie zusammen mit einem Flüchtling fotografieren.
Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Besuch einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber © picture alliance / dpa / Bernd Von Jutrczenka
Von Adelheid Wedel · 05.02.2016
Ein höfliches "Sie" zeugt von Respekt. Warum also duzt Angela Merkel die Flüchtlinge? Das fragt sich ein Feuilletonist der "Welt". Und was genau sollen geflüchtete Akademiker in Deutschland gelernt haben?
Darf Merkel Flüchtlinge duzen? Diese interessante Frage stellt Tilman Krause in der Tageszeitung DIE WELT. Dabei erinnert er an die befremdliche Vertrautheit, mit der sich Merkel Wange an Wange geschmiegt mit wildfremden Menschen für ein Selfie zur Verfügung stellte. Krause kritisiert das Verhalten als unangemessene Intimität, die von Beginn der Krise an das Verhältnis der Kanzlerin zu den Flüchtlingen prägte. Neu aber sei nun die Erwartung, dass die Syrer, wenn wieder Frieden herrsche und der IS im Irak besiegt sei, dass also die Syrier – Zitat die Kanzlerin - mit dem Wissen, das ihr jetzt bei uns bekommen habt , in eure Heimat zurückgeht. Vielleicht, so vermutet der Autor, sind die Flüchtlinge erfreut, dass sie nach wie vor durch keinerlei "Sie" von ihrer persönlichen Beschützerin auf Distanz gehalten werden.
Mit Spott aber argumentiert er: Die viel beschworenen studierten Mediziner und Elektroingenieure aus Aleppo werden sich da möglicherweise zu Recht ein wenig erstaunt fragen, was sie wohl in der Zeit, die sie hier in Containern und Wartesälen verbringen mussten, gelernt haben. Krause meint, obwohl das Siezen in Deutschland mehr und mehr aus der Mode kommt, sollten wir uns von dem "Du" der Galeerensklaven, die alle in einem Boot sitzen, verabschieden. Die Flüchtlinge selbst sind es, die auf das anbiedernde "Du" oft mit einem höflichen "Sie" kontern. Das Siezen habe eben nach wie vor etwas mit Respekt zu tun, das, so empfiehlt der Autor, könnten nun alle hier lernen.
Deutsche - herzlos und gelangweilt?
Der TAGESSPIEGEL veröffentlicht ein Interview mit dem irakischen Schriftsteller und Wahlberliner Abbas Khider. Er lebt seit 2000 in Deutschland, in München und Potsdam studierte er Literatur und Philosophie. Nach vier veröffentlichten Romanen hat er sich in seinem jüngsten Buch "Ohrfeige" der Flüchtlingsproblematik zugewandt. Sein Anspruch ist hoch. Er sagt: Meiner Meinung nach gibt es zu viele Geschichtsfälschungen. Das liegt daran, dass die Geschichte nicht von einfachen Menschen geschrieben wird, sondern von Regierungen und Herrschern. Ich aber schreibe darüber, wie einfache Menschen die Welt sehen. So kommt es, dass, mit dem Blick der Flüchtlinge gesehen, die Deutschen oft herzlos und gelangweilt erscheinen. Khider dazu: Ich kritisiere nicht die deutsche Gesellschaft, sondern das Verwaltungssystem, das uns zu komischen, gelangweilten Kreaturen macht.
Die ungarische Regierung beschämen
Ebenfalls im TAGESSPIEGEL kommt die ungarische Schriftstellerin Zsófia Bán zu Wort. Sie stellt eine wichtige Überlegung an: Nach dem 2. Weltkrieg musste Europa einen Weg zurückfinden zu den alten Werten der Menschlichkeit, um seine Identität, um sich selbst wiederzufinden. ... Doch welches Europa ist das? Das, so mahnt die Autorin, ist die Frage, auf die Deutschland, Ungarn, Österreich, Schweden und andere europäische Staaten im kommenden Jahr und im kommenden Jahrzehnt eine Antwort finden müssen. Sie klagt an: In den letzten sechs Jahren hat die rechte Regierung in Ungarn, im Verein mit der extremen Rechten, schamlos die Rhetorik des Hasses angewandt, um die vorhandenen Ängste und Unsicherheiten der Menschen zu schüren und in anderen das Schreckgespenst neuer, noch ungeahnter Ängste hervorzurufen. Stattdessen möchte Zsófia Bán das Bild Tausender ungarischer Männer und Frauen in Erinnerung behalten, die, wie sie sagt, tief getroffen in ihrer Menschlichkeit, trotz allem herbeieilten, um den Menschen in ihrer Not zu helfen, um auf diese Weise die sogenannte Führung des Landes zu beschämen.
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