Aus den Feuilletons

Woher kommt die ostdeutsche AfD-Begeisterung?

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Ein Mann mit einer Mütze der AfD nimmt an einer AfD-Wahlkampfveranstaltung für die sächsische Landtagswahl teil.
Ein Mann mit einer Mütze der AfD nimmt an einer AfD-Wahlkampfveranstaltung für die sächsische Landtagswahl teil. © dpa/picture alliance/Kay Nietfeld
Von Gregor Sander · 20.08.2019
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Wieso schneidet die AfD im Osten stärker ab als im Westen? In der "FAZ" lesen wir, schuld sei der Alltag in der DDR, in dem Demütigung und Anpassung herrschten. Die "Süddeutsche Zeitung" vermutet, schuld sei das vom Westen geschürte Nationalgefühl.
"Heimat scheint jetzt groß im Trend zu liegen", stellt Wladimir Kaminer in der TAZ fest, und dieser Trend verbessere seine Auftragslage:
"Daraufhin bekomme ich, als beruflicher Heimatloser quasi, ganz viele Aufträge, unter anderem auch von 3sat, und gehe auf die Suche nach einer Heimat, die nicht meine ist."
Auch wenn man das Gefühl nicht loswird, der gebürtige Moskauer mit Wohnsitz in Berlin macht genau das schon sein Leben lang, Jens Müller von der TAZ ist genau davon begeistert:
"'Heimat' ist also der aktuelle Aufhänger – aber wo Kaminer draufsteht, ist Kaminer drin, er bleibt sich treu."
Neben Deutschland bereist der inzwischen 52-jährige Lausbub für den Kulturkanal auch noch Österreich und die Schweiz, und zum eidgenössischen Nationalsport, dem Schwingen, fällt Kaminer Folgendes ein:
"Ein bisschen sah das schon aus wie eine Disko um vier Uhr, halb fünf Uhr früh. Also, wo schon keiner mehr so richtig tanzen kann."
Heinz Rühmann hätte das nicht schöner sagen können.

"Warum ticken die 'Ossis' so?"

Nicht ganz so lustig ist es um das Heimatgefühl der Ostdeutschen bestellt, weil die demnächst bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg oder Thüringen verstärkt die AfD wählen werden, deren Heimatbegriff wiederum stark völkisch geprägt ist:
"Aber warum ticken die 'Ossis' so?", fragt in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG Uwe Schwabe, ehemaliger Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig und heute Vorstandsvorsitzender des dortigen Archivs Bürgerbewegung. Für ihn liegen die Ursachen der heutigen ostdeutschen AfD-Begeisterung in der DDR:
"Was macht es mit jungen Menschen, wenn sie aufgewachsen sind in einem Klima der Bevormundung und der Lügen? Wenn Jugendliche die Demütigung erfahren, ihre mühsam eroberte 'Westtüte' vor versammelter Klasse auskippen und der Lehrerin übergeben zu müssen? Wenn sie vor versammelter Klasse als Feinde des Sozialismus bloßgestellt werden, nur weil sie eine Westjeans tragen?"

Schuld ist der Alltag in der DDR

Das Misstrauen der DDR-Bürger untereinander und in den SED-Staat ist für Schwabe "Nährboden für Feind- und Zerrbilder, Enge des Alltagslebens, Entsolidarisierung und Isolierung gesellschaftlicher Gruppen, Verhinderung von Vertrauen und Kooperation der Menschen. Abgrenzung geht durch die Köpfe und verschwindet nur schwer."
Und als Lösung bietet er in der FAZ Folgendes an:
"Wir müssen vom Alltag in der DDR sprechen, von Anpassung und Verweigerung, von Verantwortung und Versagen, vom Widerspruch bis hin zum Widerstand. Gewählt werden sonst wie früher auch heute diejenigen, die einfache Lösungen anbieten."
Nun kann man hier erwidern, dass in den letzten 30 Jahren doch relativ viel über genau diese Themen gesprochen wurde, und dass man die Ursachen für den aufkommenden Rechtspopulismus durchaus auch in den vergangenen 30 Jahren des wiedervereinten Deutschlands suchen darf. Denn selbst in Bayern haben bei der letzten Landtagswahl zehn Prozent die AfD gewählt, ohne dass sie dort je für ihre Westjeans bloßgestellt wurden.

Der Westen ist schuld

"Woher kommt die Wut im Osten?", fragt auch Burkhard Müller in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Er hat dazu den in Rostock aufgewachsenen Soziologen Stefan Mau gelesen, der folgenden Ansatz anbietet:
"Der heutige völkische Furor der östlichen Rechtsgruppen habe seine Wurzel in dem vereinheitlichenden Nationalgefühl, das der Westen 1990 geschürt hat, um von den hinderlichen Differenzen abzulenken."
Und dies habe für Mau eben Folgen:
"Der Unmut über die Zuwanderung von Flüchtlingen und Fremden entspringe einer tiefen Erschöpfung und dem Widerstand dagegen, sich nach den traumatischen Verwerfungen am Ende der DDR schon wieder in einer gewandelten, globalisierten Welt neu orientieren zu sollen. 'Das Ganze nicht noch einmal!', sei der angsthafte Affekt, der hinter der Wut auf die Ankömmlinge stecke."
Und wer jetzt von der irdischen Heimat genug hat, der wende mit der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG seinen Blick gen Himmel. Der ganze Aufmacher des Feuilletons ist da den Wolken gewidmet. Das liest sich leicht und flockig und beginnt mit dem Satz:
"Vielleicht war am Anfang die Wolke."
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