Aus den Feuilletons

Wie sähe Deutschland mit einer grünen Kanzlerin aus?

06:08 Minuten
Annalena Baerbock, Parteivorsitzende der Grünen, zu Gast bei Anne Will im Ersten.
Wer wird Vizekanzler, wenn Annalena Baerbock Kanzlerin wird? © mago images / Jürgen Heinrich
Von Ulrike Timm · 23.01.2021
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Mit Armin Laschets Wahl zum CDU-Vorsitzenden steht die Frage nach dem Kanzlerkandidaten wieder stärker im Fokus. Dabei könnte auf Angela Merkel auch eine Frau folgen. Die „taz“ widmet der grünen Parteivorsitzenden Annalena Baerbock ein Gedankenspiel.
Klar, mit dem 20. Januar und einem nach Florida abgerauschten Ex-Präsidenten ist nicht alles wieder gut geworden, natürlich nicht. Aber mit der ersten US-Vizepräsidentin überhaupt, einem Präsidenten, der systemischen Rassismus als Problem benennt und einer jungen schwarzen Lyrikerin, die mit einem kraftvoll vorgetragenen Gedicht zur Stimme der Amtseinführung wird, ist doch manches ein klein wenig besser als zuvor.
"Die Welt ist sich einig: Nicht Joe Biden war der Star bei Bidens Inauguration, nicht Kamala Harris, auch nicht Lady Gaga. Sondern die 22 Jahre alte, bis dahin kaum bekannte Dichterin Amanda Gorman. Schon als sie vor dem Kapitol ans Mikrofon trat, schien eine zweite Sonne aufzugehen. Als sie dann begann, ihr Gedicht ‚The Hill We Climb’ vorzutragen, stockte vielen unter ihren Orden und dunklen Mänteln sichtlich der Atem", schreibt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG.

Amanda Gormans Gedicht wird lange nachhallen

Und der TAGESSPIEGEL zeigt sich hingerissen davon, wie die junge Frau im gelben Mantel ihre Worte mit den Händen unterstrich, ganz selbstverständlich Takt und Rhythmus fand. "Der Echoraum, das spürt man sogleich, ist größer als das Riesenland, das sie in ihren Worten umarmt, aufrüttelt, beschwört. Überall auf der Welt reißt es die Fernsehzuschauer von den Sitzen. Diese sechs Minuten werden lange nachhallen", meint Rüdiger Schaper.
Die SÜDDEUTSCHE zitiert aus Amanda Gormans Text, in dem sie sich so beschreibt:
"’Ein dünnes schwarzes Mädchen, das von Sklaven abstammt und bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen ist, kann davon träumen, Präsidentin zu werden, um dann ein Gedicht für einen vorzutragen‘. Genau diese Botschaft war natürlich von Biden beabsichtigt: "Ich bin mir meines Alters, meiner Privilegien, meiner Hautfarbe bewusst", lautete sie, "bald werden andere, jüngere übernehmen", so Jörg Häntzschel.
Auch für die FAZ war dieser Auftritt "eine Klasse für sich" – die Verse selbst nicht nur emphatisch, sondern auch klug gebaut, mit starken Bildern, Alliterationen und Binnenreimen, vor allem aber sei Amanda Gormans "hill" nicht nur der Hügel des Kapitols, sondern zugleich ein "Verweis auf Martin Luther Kings Traumrede von 1963, in der er auch in Washington seine Vision vom Tisch der Brüderlichkeit in den roten Hügeln von Georgia entwarf."
In den USA also stehen die Zeichen auf Neustart – auch wenn Kurt Kister in der SÜDDEUTSCHEN darauf verweist, dass in der amerikanischen Geschichte bislang jeder US-Präsident solche Gefühle des Neuanfangs enttäuschte und enttäuschen musste.

Kann Armin Laschet Vizekanzler?

Fallen wir nun bedeutungsmäßig mit einem kräftigen Plumps etwas zurück. Auch die CDU Deutschland schlägt ein neues Kapitel auf. Armin Laschet wird sie künftig anführen. Prompt fragt die TAZ in dieser Wochenendausgabe: "Kann er Vizekanzler?", und denkt da keineswegs an einen Vize Laschet hinter einem Chef Söder, sondern übt ein anderes Gedankenspiel: "Wie sähe Deutschland mit einer grünen Kanzlerin aus?". Nun, bis dahin ist noch allerhand zu klären und zu wählen. Und bis dahin muss Laschet auch noch gucken, wie er für den jetzt zweimal knapp gescheiterten Parteifreund Friedrich Merz Verwendung findet.
Prompt zeigt die TAZ frei nach dem Motto "Scheitern als Chance" ihr "Herz für Merz" und meint: "Ist das nicht eigentlich sympathisch? Statt stets auf seine Außenwirkung zu achten, lässt Merz einfach alles raus. Wie man einem Kind schließlich auch ein Bonbon zum Trost gibt, wenn es hingefallen ist, verlangte er nach der verlorenen Wahl prompt quasi als Schadensersatz wenigstens das Wirtschaftsministerium."
"Brett vorm Kopf" – so kommentiert der TAGESSPIEGEL nicht Merzschen Aktionismus, sondern fragt: "Was bleibt im Lockdown, wenn man seine Freizeit nicht nur vor der Glotze verbringen will? Gesellschaftsspiele!". Und versammelt eine ganze Reihe Ressortkollegen zur ganzseitigen Hymne auf "Mensch ärgere Dich nicht", Puzzle, Scrabble & Co.

Impfreisen für Superreiche

Während der TAGESSPIEGEL uns Durchschnittsbürgern die Corona-Wehwehchen so austreiben will, setzt die FAZ aufs Exklusive. Gina Thomas erzählt von einer Londoner Firma, die "Impfreisen für Superreiche" im Programm hat: "Die Reise- und Lifestyle-Agentur Knightsbridge Circle", die "außergewöhnliche persönliche Dienste auf unübertroffenem Niveau" anbiete. Jetzt sei man gar "Pionier" eines "neuen Luxus-Reise-Impfstoff-Programms".
"Die Firma schneidert für geschätzte 40.000 Pfund Impfreisen nach Indien oder in die Vereinigten Arabischen Emirate auf die persönlichen Bedürfnisse der Kunden zu: Drei Wochen verbringen diese dort in einer Luxusvilla zwischen der ersten und der zweiten Dosis."
Wer weiß, vielleicht verleiht ja auch Russlands Präsident Putin für diese Zwecke ausnahmsweise mal seine Datsche, 18.000 Quadratmeter Wohnfläche in Retroarchitektur. Die WELT AM SONNTAG hat das Refugium schon abgelichtet. "Ein Haus am Meer. Jeder Potentat will sein Privatissimum unter Palmen, über der Steilküste, versteckt im Gebirge." Putins Villenanlage hat allerdings der russische Dissident und Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ins Visier genommen, er versucht nachzuweisen, dass Putin sein Protzschloss mit Steuergeldern finanziert hat. Könnte also noch Ärger geben.
Die ZEIT nimmt derweil die Diskussion um Vorrechte für bereits Geimpfte auf. Jens Jessen blickt in seiner Glosse in eine Zukunft, wo geimpfte Senioren mit Ausgehprivilegien rechnen können. Neue Kunden für neue Dealer – die handeln mit fälschungssicheren Impfpapieren! Und über allem schallt dann der Seniorenjuchzer: "Endlich wieder Disco!"
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