Aus den Feuilletons

Wenn der Bäcker keine Bäckerin mehr sein darf

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Buchcover des Duden.
Der Duden missbrauche "seine ihm häufig zugeschriebene Deutungs- und Definitionshoheit über die deutsche Sprache", sagt die Linguistin Ewa Trutkowski im Gespräch mit der "Welt". © imago images / U. J. Alexander
Von Tobias Wenzel · 09.01.2021
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Der Duden schafft das generische Maskulinum ab - zumindest in seiner Onlineausgabe. Mit der männlichen Form kann nur noch ein Mann gemeint sein. Doch das zeuge von einer "Ignoranz der sprachlichen Realität", lesen wir in der "Welt".
Der Vogel des Jahres 2021, dieses Mal gewählt vom Onlinevolk, wird der Vorabstimmung zufolge wohl die Stadttaube, berichtete, merklich verstört, Heiko Werning in der TAZ und schrieb: "Wobei die Taube selbst im Wesentlichen durch schlechtes Benehmen auffällt, also eine Art Donald Trump der Vogelwelt darstellt, nur, dass sie ihre Wahl halt tatsächlich gewonnen hat."
"Er wird in diesen letzten Tagen seiner Amtsführung vom fiktiven Präsidentendarsteller zum kriminellen Führer des Mobs", schrieb Gerhard Matzig in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG über Donald Trump. "Wie konnten wir in Amerika so weit kommen?", fragt, den Sturm auf das Kapitol im Kopf, der Schriftsteller Richard Ford in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG: "Ein dilettantischer Coup an einem milden Winternachmittag, mit einem wahnsinnigen Präsidenten und einem halben Land, das glaubt, im Keller einer Washingtoner Pizzeria würden Babys gegessen?"

Trumps gescheiterter Plan der Machtübernahme

"Geschminkte Träger von Geweihen, die als Beruf 'QAnon-Schamane' angeben, wie man sie unter den Rechtsradikalen sah, geben wenig Anlass zur Vermutung, eine Machtübernahme stehe bevor", beruhigte Jürgen Kaube in der FAZ. Dagegen analysierte in derselben Zeitung Wolfram Siemann, Historiker und Experte für Revolutionsgeschichte, der Sturm auf das Kapitol sei Teil eines größeren Plans von Donald Trump gewesen, der böse hätte ausgehen können.
"Trump hielt sich ganz heraus, verfolgte alles am Fernseher und vertraute auf die Dynamik, dass der Angriff im Parlament so weit gehen würde, es völlig handlungsunfähig zu machen – was ja vorübergehend gelang – und zugleich ein unkontrolliertes Blutbad anzurichten", schrieb Siemann. Dann hätte Trump den Notstand ausgerufen und als Herr der militärischen Exekutive die Zertifizierung der Wahl verhindert.
Das Foto vom Trump-Fan, der es sich, "die Füße demonstrativ auf den Schreibtisch gelegt", im Sessel Nancy Pelosis bequem machte, und die Erstürmung des Kapitols überhaupt erinnerten Wolf Lepenies in der WELT daran, wie Gustave Flaubert im Roman "Lehrjahre des Gefühls" seinen Helden Frédéric Moreau und dessen Freund Hussonnet die Einnahme der Pariser Tuilerien 1848 erleben ließ:
"Vorwärts geschoben gegen ihren Willen betraten sie einen Raum, an dessen Decke ein Baldachin von rotem Samt gespannt war. Auf dem Thron darunter saß ein schwarzbärtiger Proletarier, das Hemd halb offen, mit der stumpfsinnigen Heiterkeit eines hässlichen Affen", zitierte Lepenies Flaubert. Und weiter: "'Gehn wir', sagte Hussonnet, 'mich ekelt vor diesem Volk'."

Identitätspolitik auf Kosten von Sozialpolitik

Nur wie konnte es so weit, also zum Sturm auf das Kapitol, kommen? Um den Erfolg Trumps und der Republikaner zu erklären, erinnerte Lepenies daran, dass der Philosoph Richard Rorty schon 1997 einen Politiker wie Trump vorausgesagt hatte. "Der Fehler der Demokraten, so Rorty, lag darin, gegenüber einer Identitätspolitik, der es darauf ankam, Minoritäten zu schützen und kulturelle Unterschiede zu achten, eine Sozialpolitik zu vernachlässigen, der es darum ging, die ökonomischen Ungleichheiten innerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu reduzieren", schrieb Wolf Lepenies in der WELT.
"Identitätspolitik ist ein Irrweg", analysiert, ganz allgemein, Bernd Stegemann im neuen SPIEGEL. "Identitätspolitik ist spätmoderne Wutpolitik. Jede einzelne Kränkung zahlt in die Kasse des Empörungskollektivs ein und befestigt die Grenzen der Wutgemeinschaft", schreibt Stegemann.
"Wenn die Empörung zum abschließenden Argument gemacht wird, endet jedes rationale Gespräch. Dann können Einzelne verlangen, dass Bilder in Museen abgehängt werden, auch wenn die Mehrheit sie sehen möchte. Und zu welcher Gewalt Empörte fähig sind, zeigten jüngst die Erstürmung der Reichstagstreppen durch Querdenker und der Sturm der Trump-Anhänger aufs Kapitol."

Duden-Redaktion ignoriert die sprachliche Realität

Auch die Duden-Redaktion macht nun Identitätspolitik, tut in der Onlineausgabe so, als gäbe es kein generisches Maskulinum, definiert zum Beispiel "Mieter" nur noch als "männliche Person, die etwas gemietet hat" und bringt dementsprechend einen weiteren Eintrag für "Mieterin". Zu verkennen, dass etwa "Mieter" sowohl männlich als auch generisch gelesen werden könne, zeuge von einer "Ignoranz der sprachlichen Realität", sagte die Linguistin Ewa Trutkowski im Gespräch mit DER WELT. Der Duden missbrauche hier "seine ihm häufig zugeschriebene Deutungs- und Definitionshoheit über die deutsche Sprache".
Machtmissbrauch, Sturm auf das Kapitol, eine schnöde Stadttaube als Vogel des Jahres – so negativ sollte man nicht enden. Drum zum Schluss noch ein Lob auf den Optimismus oder – meinetwegen – auf die Optimismuse. "Optimisten wissen, wie man sich das Dasein verschönert", schrieb Paul Jandl in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG:
"Noch das Allerschlimmste kann sein Gutes haben. Seine existenzielle Pointe. Der Arzt Joseph-Ignace Guillotin zum Beispiel, Namensgeber der Guillotine, soll das Wesen dieser Todesmaschine mit einem Euphemismus beschrieben haben, der geradezu poetisch wirkt. Genau besehen, sorge das herabfallende kühle Beil beim Delinquenten immerhin auch für 'eine angenehme Erfrischung am Hals'."
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