Aus den Feuilletons

Weihnachtswahn im Hochsommer

06:09 Minuten
Ein Weihnachtsmann aus Schokolade.
Jedes Jahr wundert man sich aufs Neue über die frühe Ankunft des Weihnachtsmannes im Supermarktregal. © dpa / Pauline Willrodt
Von Tobias Wenzel · 15.08.2020
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Im Kapitalismus beginnt Weihnachten im Sommer: In zwei Wochen halten die Schokoweihnachtsmänner Einzug in die Supermarktregale. Zudem arbeiten einzelne Bundesländer bereits an Coronakonzepten für die Weihnachtsmärkte – nachzulesen in der "taz".
Am Mittwoch war "Kinderüberzuckerungstag". Nur was macht man da? "Soll man den Nachwuchs morgens ausgiebig mit Zucker bestreuen?", fragte der Satiriker Hans Zippert in der WELT. "Das könnte in der aktuellen Hitzeperiode leicht dazu führen, dass die Kinder karamellisieren."
"Heute ist Hitze immer auch Vorbote, und das Sirren in der heißen Luft ist das Stöhnen des Planeten", analysierte Waltraud Schwab in der TAZ. "Der derzeitige Pfad der Treibhausgasemissionen ist der sichere Weg in die größte anzunehmende Dürrekatastrophe", warnte passend dazu Joachim Müller-Jung in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Aber schon jetzt sei die Lage brisant: "Seit der Französischen Revolution hat es eine Dürre wie die aktuelle nicht gegeben."

Bald steht das Weihnachtssortiment in den Regalen

Lust auf Lebkuchen, liebe Hörer? Erica Zingher erinnerte nämlich in der TAZ daran, dass Supermärkte schon in gut zwei Wochen das Weihnachtssortiment anbieten. Klingt verfrüht. Aber die Bundesländer denken schon länger an Weihnachten: Sie entwickeln Konzepte für Weihnachtsmärkte in Coronazeiten. Unter anderem sollen Besucher in vorgegebener Laufrichtung über die Märkte geschleust werden. "Glühwein und kandierte Äpfel im Wortsinne to go", kommentierte Erica Zingher, bei der noch keine Weihnachtsstimmung aufkommen wollte.
Oder man verlegt den Weihnachtsmarkt einfach ins Digitale! Der Digitalisierung trauen manche sogar zu, psychische Folgeschäden der Pandemie abzuwenden. Wenn man den Artikel von Victor Sattler für die FAZ las, kamen einem da Zweifel. Besonders Frauen scheinen im Lockdown zu leiden, wenn sie nämlich durch die Verlagerung ins Netz zwischenmenschlicher Berührungen beraubt werden. In Sattlers Worten:
"Forscher der Universität von Arizona haben in einer Studie mit knapp fünfhundert Zwillingspaaren Anhaltspunkte dafür gefunden, dass zumindest bei Frauen die Neigung zu zärtlichem Körperkontakt nicht bloß sozial erlernt wurde. Ihr 'Haut-Hunger', das Bedürfnis nach Umarmungen oder Handschlägen, könne zu einem Teil (hier waren es im Mittel 45 Prozent) auch durch Vererbung erklärt werden. Die Ergebnisse bei den männlichen Zwillingen erlaubten eine solche Schlussfolgerung nicht."

Lisa Eckhart und die 'Gutunmenschen'

"Haut-Hunger", was für ein schönes Wort! Interessant auch: "Gutunmensch"? Dieses Wort hat die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart verwendet. Eckhart war vom Hamburger "Harbour Front"-Literaturfestival ausgeladen worden, nachdem ihr aufgrund eines alten Fernsehauftritts Rassismus und Antisemitismus vorgeworfen worden war.
In der ZEIT nahm Alexander Cammann die Kabarettistin gegen die Vorwürfe in Schutz, indem er Eckharts Methode erklärte: "Als eine Kunstfigur Verstöße gegen Sitte und Anstand der sich tolerant Gerierenden begehen, Simulationen von Haltung entlarven, Gewissheiten der Sichbesserdünkenden geschmacklos unterlaufen, radikale Verunsicherung und Verstörung in alle ideologische Richtungen forcieren."
"Als die Kritik an meinem Fernsehauftritt aus 2018 im Mai aufkam, dachte ich, das sei noch der Quarantäne geschuldet", erzählte Lisa Eckhart im Interview mit dem TAGESSPIEGEL. "Da sind den Gutunmenschen offenbar die Spaziergänger ausgegangen, die sie fotografieren und im Netz anprangern können. Also wurden die Archive geöffnet." Und weiter:
"Den Begriff 'Gutmensch' als Schimpfwort schätze ich nicht. Das sind Philanthropen wie ich auch, gegen die habe ich überhaupt nichts. Anders die Gutunmenschen mit ihrem wahnwitzigen, in den Fundamentalismus abgleitenden Glauben, ein besserer Mensch zu sein. Der zeugt von einer Überheblichkeit, zu der selbst ich es noch nicht gebracht habe."

Wie würde Charles Bukowski reagieren?

Die Macher eines Literaturfestivals laden eine Kabarettistin und Autorin aus, weil sie gefährliche Störaktionen von Linksradikalen fürchten – Charles Bukowski, der US-amerikanische Dichter, der an diesem Sonntag 100 geworden wäre, hätte, pardon!, gekotzt und wohl über das Literaturfestival derart scharf geurteilt wie über Literaturzeitschriften:
"Viele dieser Magazine werden von lahmarschigen Jungs gegründet, die absolut kein Durchhaltevermögen haben und zum ersten Mal in ihrem Leben etwas ohne Mutti auf die Reihe kriegen wollen", schrieb Bukowski einmal, wie Jens Uthoff in der TAZ verriet.

Hegels Schülern dürften die Köpfe geraucht haben

Bukowski, den hätte man gerne als Lehrer gehabt. Wohl lieber als Hegel. Der Philosoph war, so Jürgen Kaube in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG, einige Jahre lang Leiter einer Nürnberger Schule:
"Hegel lehrt seinen dreizehnjährigen Schülern in der Mittelklasse nicht weniger als die eigene, im Entstehen begriffene Logik. Welche Beispiele hat er ihnen wohl für Sätze wie 'Das Wesen ist das aus seiner Unmittelbarkeit in sich zurückgenommene Sein, dessen Bestimmungen in einfacher Einheit aufgehoben sind' gegeben?", fragt Kaube und urteilt: "Den Schülern dürften die Köpfe geraucht haben."
Jochen Schmidt kann sich vorstellen, dass Schüler zu Hause vielleicht sogar mehr lernen als in der Schule. Ebenfalls in der FAS erinnert sich Schmidt daran, was er als Kind zu Hause alles an Lehrreichem gemacht hat:
"Ich habe versucht, einen Hammer in der Luft zu drehen und am Griff wieder aufzufangen, ich habe die Troddeln der Teppiche gekämmt, ich habe alle Schreibmaschinentasten gleichzeitig gedrückt, so dass die Typen verklemmten und einen Klumpen bildeten, ich habe versucht, mir einen dicken Strohhalm über die Eckzähne zu stülpen, ich habe mir mit einem Pflanzenbestäuber süße Granulattee-Wolken in den Mund gesprüht."
Ein richtiger "Kinderüberzuckerungstag".
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