Aus den Feuilletons

Warum Felix Krull nie bei Wirecard gewesen wäre

04:22 Minuten
Das Gebäude von Wirecard in Aschheim, Deutschland, 2020.
Gefallen und verachtet: Die "FAZ" hat wenig Sympathie für die Betrüger von Wirecard. © Getty / Lennart Preiss
Von Hans von Trotha · 27.08.2020
Audio herunterladen
Die "FAZ" erklärt anhand des Wirecard-Skandals den Unterschied zwischen Betrügern und Hochstaplern: Der elegante Hochstapler Felix Krull von Thomas Mann hätte niemals bei den plumpen Betrügereien von Wirecard mitgemischt.
Sind wir nicht alle "Alchimisten unserer selbst"? Dazu mehr am Ende dieses Blicks in die Feuilletons, in dem es um die Literatur als Kategorie der Welterklärung gehen soll. Dazu muss sie ernst genommen werden. Das kann sich auf unterschiedliche Weisen manifestieren. Zum Beispiel, indem versucht wird, sie zu verbieten.
Andrea Dernbach berichtet im TAGESSPIEGEL (Printausgabe): "Mit der kuriosen Begründung, das Stück sei wegen seiner Themen, (Zitat:) 'den katholischen Glauben betreffend, für die Bevölkerung nicht passend'" hat eine umbrische Gemeinde "die Aufführung des Stücks 'Mistero buffo' von Dario Fo und Franca Rame verhindert."
Szene des Anstoßes war eine, die die Flucht Jesu und seiner Eltern vor den Mordplänen des Königs Herodes aus Bethlehem erzählt. "Am Zufluchtsort werden sie als Fremde geschnitten, Jesus darf nicht mit den einheimischen Kindern spielen und wirkt schließlich ein Wunder, um sich beliebt zu machen."
Jacopo Fo, Sohn von Franca Rame und Dario Fo, zeigt sich übrigens "erfreut": "Dass die Werke meines Vaters und meiner Mutter noch immer nerven können", sei "ein Grund, stolz zu sein. So zeigt sich immer wieder, wie lebendig ihre Kunst ist."

Goethe als Feminist

Wie lebendig literarische Kunst ist, kann sich auch darin zeigen, dass sie immer wieder neu gelesen wird. So überrascht Gustav Seibt in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG mit einer in seinen eigenen Augen quasi-feministischen Lektüre von Goethes Roman Wilhelm Meister, beziehungsweise dessen sechstem Buch, den Bekenntnissen einer schönen Seele.
Das sei, so Seibt, "Goethes verkannter weiblicher Bildungsroman". Und der Bildungsroman ist für Seibt nicht weniger als das "Kronjuwel deutscher Literatur", allerdings stark männlich dominiert. Außer in eben diesem Stück Goethe. "Wenn es eine wache feministische Literaturwissenschaft gäbe", lehnt Seibt sich aus dem Fenster, "müsste es bergeweise Literatur dazu geben".
Außerdem erkennt er: Das Bildungsbürgertum liebt schließlich kaum etwas so sehr wie den Bogenschlag von Goethe zu Thomas Mann - und es klappt einfach immer wieder, "eine Thomas Mann-artige, fast Tonio-Kröger-hafte Distanz", Seibts Worte, "zwischen der Schönen Seele und der Gesellschaft der Normalen und Gesunden".
Und Gustav Seibt setzt noch eins drauf: "Die berühmte Milde" von Goethes Klassizismus, meint er, "könnte man auch als weiblichen Zug anerkennen." Kann es sein, dass die dauerhafte Präsenz von #Metoo und feministischen Debatten den männlichen Blick auf männliche Autoren schleichend verändert?

Betrüger oder Hochstapler?

Da könnte auf Thomas Mann noch einiges zukommen. À propos. Damit sind wir beim dritten Fall literarischer Welterklärung: der Projektion literarischer Figuren auf die Wirklichkeit. In der FAZ (Printausgabe) erklärt Melanie Mühl, "warum Felix Krull nie einen Job bei Wirecard angenommen hätte". Ihr Thema ist der "Unterschied zwischen Betrügern und Hochstaplern".
Das ist "ein bedeutender Unterschied", so Mühl, "denn die Kategorie, in die der Täter fällt, entscheidet darüber, ob wir mit ihm trotz (beziehungsweise wegen) seiner Taten sympathisieren", oder aber "ob wir ihn verachten. Thomas Manns Felix Krull", vermutet Mühl, "würde sich wohl niemals auf eine Stufe mit den Wirecard-Betrügern Markus Braun und dem flüchtigen Jan Marsalek stellen."
Übrigens: "Für den Hochstapler wie den Betrüger gilt: Je monströser die Lüge, desto eher sitzt die Umwelt ihr auf", heißt es weiter. "Im Falle des Hochstaplers genügt es allerdings nicht, eine Rolle nur sehr gut zu spielen, der Hochstapler muss sich mit Haut und Haar in den Gespielten verwandeln, das Fremde zum Eigenen machen, die Lüge zur Wahrheit." – "In diesem Sinne", so Mühl, "ist der Hochstapler ein Alchemist: Er selbst ist der Stoff, den er verwandeln will. Ganz anders der Betrüger: Er bleibt im Grunde immer er selbst. Während den Betrüger die Gier treibt, stammt der Hochstapler aus dem Reich der Komödie. Er hat keine Komplizen, nur Publikum. Deshalb führt er eine einsame Existenz."
So, jetzt können wir alle in uns gehen und uns ganz ehrlich befragen, welches dieser beiden Muster wohl eher auf uns passt. Notfalls kann man sich auch eingestehen, dass man zur dritten Kategorie gehört: "Betrüger wie auch Hochstapler", erklärt Melanie Mühl nämlich, "sind auf etwas angewiesen, das sie nicht selbst erschaffen können" – und das ist dann halt doch immer auch eine Option: "Sie brauchen gutgläubige Opfer, die ihnen blind vertrauen."
Mehr zum Thema