Aus den Feuilletons

Von Beethoven lernen

04:23 Minuten
Fotographie einer Postkarte um 1920, die einen idealisierten Beethoven mit wilden Augen zeigt.
Ludwig van Beethoven: Von ihm könne man "Angstfreiheit auch in Engpässen" lernen, sagt der zeitgenössische Komponist Wolfgang Rihm. © imago images / UIG
Von Arno Orzessek · 13.03.2020
Audio herunterladen
Der Komponist Wolfgang Rihm begeistert sich für das Genie Beethoven, erläutert er in der "FAZ". Dessen Musik zeuge nicht nur von irrem Humor, sondern auch von Angstfreiheit.
Zunächst eine Frage an die Lyrik-Fans, passend zum Hölderlin-Jahr: Aus welchem Gedicht des Jubilars stammen folgende Zeilen, die laut der Tageszeitung DIE WELT an einen "Fiebertraum" gemahnen?

"Mich schweigen, der Sterne sich bewinnen,
Daß sie die blühende Liebe streun,
Schöner Gestalt, wie der Tage sich,
Voll Engelsauge du,
Da war ich die Winke der Liebe der Seele,
Und der Himmlischen erste Natur."

Okay, wahrscheinlich haben Sie schon beim nicht-lexikalischen "bewinnen" gestutzt. Tatsächlich hat nicht Friedrich Hölderlin die zitierten Zeilen geschrieben, sondern ein künstliches neuronales Netz. Das allerdings wurde mit 10.000 echten Zeilen des Dichters trainiert, Hölderlin-Sound zu erzeugen. Und zwar von Frank Fischer und Boris Orekhov, die an Moskauer School of Linguistic forschen.

Rechenaufwand für Nonsens

"Skandiert man die Neurogedichte laut", gestehen Fischer und Orekhov in der WELT, "offenbart sich mitunter eine Nähe zu Nonsensgedichten wie Loriots 'Kraweel, kraweel!' Unser künstliches neuronales Netz kann übrigens auch nicht so über sich selbst räsonieren wie einst Helmut Kohl, der von sich immer behauptet hat: 'In Hölderlin war ich gut.'"

Frank Fischer und Boris Orekhov in dem WELT-Artikel "Der digitale Superdichter".

Einen authentischen Hölderlin-Satz kennt auch fast jeder Lyrik-Banause.

"Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch", na klar.

Und nichts anderes hoffen gerade Millionen, vielleicht Milliarden, auf dem "Planet der Sorgen", als den die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG die Erde bezeichnet. Thomas Steinfeld hat die Schriften des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard aufgeschlagen – und referiert nun: "Der Sorge steht bei Kierkegaard die Kategorie der Angst entgegen. Verbunden sind die beiden Begriffe durch die Gegenwart des Unbekannten. Die Angst sei eine Art Schwindel, meinte der Philosoph. Wer in eine gähnende Tiefe hinunterschauen müsse, der beginne zu taumeln. Der Schwindel gilt dem Fremden, das man nicht kennt und das man nicht in den Griff bekommt."

So der SZ-Autor Steinfeld.

Gefangen in Gedanken an das Schlimmste

Sie merken: Wir sind, ohne den Begriff 'Corona' ein einziges Mal zu strapazieren, bei dem Thema, das aktuell alle anderen in den Schatten stellt.

Und um das letztlich auch Thomas Steinfelds Kierkegaard-Erläuterungen kreisen.

"Der Schwindel stellt sich bei dem Gedanken ein, mit der Epidemie nähme es so bald kein Ende. Linderung sei erst dann zu erwarten, wenn zwei Drittel der Menschen infiziert gewesen seien. Der bürgerliche Mensch glaubt gern, er sei nur dann er selbst, wenn er sich einbilden könne, das Subjekt seiner eigenen Verhältnisse zu bilden. Zwar ist er es nur selten und dann auch nur zum Teil. Im Augenblick aber ist er es überhaupt nicht mehr."

Unterdessen verkündet die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG: "Das öffentliche Kulturleben wird zum Erliegen kommen". Paul Ingendaay berichtet, Bund und Länder hätten bereits Hilfe zugesagt haben – Konkretes erfährt man jedoch noch nicht. Dafür listet die TAGESZEITUNG sehr penibel auf, was in puncto "Kino, Literatur, Musik, Kunst und Theater" überhaupt noch geht beziehungsweise nicht geht. Was Sie bei Interesse bitte selbst nachlesen wollen.

Leidenschaft für Beethoven

Am meisten Spaß im aktuellen Feuilleton macht uns das FAZ-Interview mit dem witzigen und schlagfertigen Komponisten Wolfgang Rihm – der überaus leidenschaftlich wird, als das Gespräch auf Beethoven kommt.

"Was können wir von ihm lernen? Subjektivität und Verausgabung, zarteste Detail-Fürsorge, ungeschützten Form-Trieb, Angstfreiheit auch in Engpässen, Freude an der generativen Gewalt natürlichen Wuchses, irren Humor, die Fähigkeit, Zeit wie eine Substanz zu stauen und loszulassen, Selbstvergessenheit, die Einheit des Widersprüchlichen auszuhalten, plötzlich zu enden. – Und plötzlich wieder zu beginnen. Aber das ist nicht alles. Man muss ihm wohl zuhören."

Schlussfrage: Glauben Sie an den Fortschritt? Nun, Wolfgang Rihm nicht. Die FAZ teilt seine Ansicht per Überschrift mit: "Fortschritt? Gibt’s Vielleicht bei Friseuren von Popstars".
Mehr zum Thema