Aus den Feuilletons

Vom Freistoß über den Rassismus zur Ecke

04:08 Minuten
Der italienische Nationalspieler Andrea Belotti kniet nieder vor dem Spiel gegen Wales in Rom auf der Fußball-Europameisterschaft. Nicht alle seine Team-Kollegen tun es ihm gleich und setzen so ein Zeichen gegen Rassismus.
Der italienische Nationalspieler Andrea Belotti kniete nieder, andere aus seinem Team nicht. Die FAZ hätte sich ein geschlossenes Auftreten der Mannschaft gewünscht. © imago images / Insidefoto
Von Gregor Sander · 22.06.2021
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Die Feuilletons der Zeitungen beschäftigen sich mit Fußball und seinem politischen Potenzial: Es geht um Regenbogenfarben und das Beugen des Knies. Das Spiel hat seine Unschuld verloren - wenn es die denn jemals hatte.
"Sport ist politisch, besonders, wenn ein bekennender Fußballfan das Land führt", schreibt Judith Langowski im Berliner TAGESSPIEGEL. Gemeint ist der Ungar Viktor Orbán, der als besonders fußballverrückt gilt, so verrückt, dass er sogar seinem Heimatkaff Felcsút (Felltschut) ein Stadion für 4.000 Zuschauer spendierte. Obwohl der Ort nicht einmal halb so viele Einwohner hat.
Aber das ist nicht das Problem der Feuilletons vom Mittwoch. Swantje Karich beschreibt es in der Tageszeitung DIE WELT so: "Die Europäische Fußball-Union (Uefa) untersagt der Stadt München, ihr Fußballstadion zum EM-Spiel gegen Ungarn am 23. Juni in Regenbogenfarben zu beleuchten, um damit gegen Homophobie zu demonstrieren."

Spielen im "Feindesland"

Wer also glaubt, es geht am Mittwoch für Jogis Jungs nur noch um drei Punkte und den Einzug in Achtelfinale, der irrt. Das Spiel hat seine Unschuld verloren, wenn es die denn jemals hatte.
"Präsident Viktor Orbán hat ein Gesetz verabschiedet, das Homosexualität mit Pädophilie gleichsetzt. Jegliche Informationen über andere Lebensformen werden verboten. Sicherlich mehr als die Hälfte der Serien auf Netflix könnten bald schon in Ungarn nicht mehr zu sehen sein. Das ist aber wohl das kleinste Übel. Kinder sollen gar nicht erst davon erfahren, dass es Männer gibt, die Männer lieben, und Frauen, die Frauen lieben, und dass das seit jeher zum Menschen gehört", empört sich Karich in der WELT.
"Wir haben es mit Symbolpolitik im Wortsinn zu tun. Mit einem Symbol wird Politik gemacht", kontert Patrick Bahners in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG und bekennt: "Im Sinne der Fairness konnte die UEFA nicht anders entscheiden. Wäre das Stadion heute so eingefärbt wie von der Stadt, aber auch vom bayerischen Ministerpräsidenten gewünscht, wäre der ungarischen Nationalmannschaft signalisiert worden, dass sie ihr Auswärtsspiel in Feindesland hätte absolvieren müssen", so Bahners.
Dass es aber auch in anderen Stadien gar nicht so politisch neutral zugeht, beschreibt seine Kollegin Karen Krüger, ebenfalls in der FAZ: "Kann es sich die Nationalmannschaft eines demokratisch verfassten Staates leisten, Gesten von globaler Bedeutung einfach Launen und privaten Vorlieben zu überlassen? Darüber streitet man gerade in Italien."
Vor dem Spiel in Rom gegen Wales wurden die Azzuris von gegen Rassismus niederknienden Walisern überrascht, was zur Folge hatte, dass die halbe italienische Mannschaft auch niederkniete und die andere Hälfte einfach stehen blieb. Krüger kommentiert das so:
"Wenn klar gewesen wäre, was die Mehrheit will, hätte man geschlossen auftreten können – nicht der einzelne Fußballspieler sollte sich hinknien, sondern die Nationalmannschaft. Die Hälfte kniend und die Hälfte stehend, das wirkte verfehlt. Fehl am Platz sind indes auch öffentliche Strafgerichte über die Spieler. Gesten, die richtig und wichtig sind, verlieren so nur ihren Sinn."
Aber wäre das regenbogengefärbte Münchner Stadion nicht auch so eine richtige und wichtige Geste gegen Homophobie gewesen? Vielleicht kann das ja innerhalb der FAZ noch einmal diskutiert werden.

Der wahre Held der EM

Die nächste Weltmeisterschaft findet übrigens in Katar statt und die Sportschau veröffentlichte gerade eine repräsentative Umfrage, nach der 65 Prozent der Befragten befürworten, dass die deutsche Nationalmannschaft aufgrund der dortigen Menschrechtslage nicht zur Weltmeisterschaft 2022 anreist.
"Jede Generation hat das Recht auf eigene Helden", betont Patrick Wildermann im TAGESSPIEGEL und benennt hier einen, dessen Heldentat sich eher am Spielfeldrand ereignete: Simon Kjaer. "Wie der Kapitän der dänischen Nationalmannschaft über sich hinauswächst, während niemand weiß, ob gerade sein Teamkollege Christian Eriksen auf dem Platz stirbt, wie er hilft und tröstet und einfach das Richtige tut – das ist eine echte Heldensaga."
"Wichtig ist auf‘m Platz", lautet eine jahrzehntelang zitierte Fußballweisheit. Vielleicht stimmt die ja einfach nicht mehr.
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