Aus den Feuilletons

Virtuell um die Welt

04:21 Minuten
Bergwandern in Bayern am Breitenberg. Ein Schild weist auf eine 360 Grad-Webcam hin.
Super Aussicht: Bergwandern per Webcam in Bayern. © imago-images / MiS / Bernd Feil
Von Hans von Trotha · 04.02.2021
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Der "Tagesspiegel" reist in die große, weite Welt - mit Live-Webcams. Vorteil dieser Reiseform: keine CO2-Emissionen. Nachteil: Nicht alles, was ins Netz gestreamt wird, ist auch spannend. Manchmal ist es sogar schrecklich langweilig.
"Nicht jeder kann Quarantäne", stellt die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG fest. Recht hat sie. Und so verspricht Bernd Noack "ein paar nützliche Tipps für das Leben in der Abgeschiedenheit". Manchmal ist Feuilleton eben doch zu etwas gut, denkt man - und liest: "Gelegentlich ans Bücherregal treten und literarischen Zerstreuungsstoff in diesen wirren Zeiten suchen!"

Wohlfeiler Ratschlag eines Feuilletonisten

Sorry, Bernd Noack, aber wir sind vom Feuilleton in den vergangenen elf Monaten schon so oft vor unser Bücherregal geschickt worden, dass der Teppich da schon ganz fadenscheinig ist. Sie schreiben's ja selbst:
"Die Lamenti von Camus (Pest!) oder Defoe (Pest!) loswerden, den Spuk der Lady Macbeth verscheuchen, die einem in den Ohren liegt mit ihrem ewigen 'Hände waschen'. Egal wohin man greift, das Ende schien schon immer nahe: 'Mord und Mörder müssen isoliert werden', schreibt der alte Opium-Esser Thomas de Quincey, 'abgeschnitten durch einen unermesslichen Graben von dem gewöhnlichen Auf und Ab des menschlichen Treibens und eingeschlossen in eine tiefe Abgeschiedenheit'. Besser hätte es Herr Spahn auch nicht sagen können."
Leserschaft an Feuilleton: ein für alle Mal - Texte, die vor 2020 geschrieben wurden, mögen von allem Möglichen handeln, von Covid-19 handeln sie nicht.
Im TAGESSPIEGEL gibt Nina Breher für uns die - jetzt kommt ein Wort, für das wir womöglich doch noch einmal vors Regal treten müssen (nachschlagen, was das bedeutet!): Reisereporterin. Kein Witz! Sie versorgt uns mit Bildern aus der großen, weiten Welt. Und das aus dem Homeoffice. Sie war per Webcam unterwegs.
"Webcams bekommen in Zeiten der Pandemie noch mehr Aufmerksamkeit", stellt Nina Breher fest, fragt sich aber auch gleich: "Was suchen wir da eigentlich?" Gute Frage.

Die entschleunigtste Variante der Zukunft

"Auf der ganzen Welt", schreibt sie, "unterhalten Institutionen, Einrichtungen und Privatleute Kameras, die ins Internet streamen, was auch immer vor ihre Linsen kommt. Manche wollen dokumentieren, manche unterhalten, andere sind schlicht absurd. Dank der Streams kann man im Lockdown zumindest irgendwo live dabei sein." Kleiner Trost: "Wer mit Live-Webcams durch die Welt reist, muss sich weder wegen CO2-Emissionen grämen, noch muss er sich für einen Teil der Welt entscheiden."
"Die erste Webcam der Welt", lernen wir übrigens, "zeigte zwischen 1991 und 2001 den Füllstand einer Kaffeemaschine in Cambridge". Und: "Der langweiligste Stream verfolgt das sogenannte 'Pitch Drop Experiment' - ein Langzeitexperiment der Universität Queensland, das das Tropfverhalten von Pech untersucht. Seit 1927 läuft es, erst neun Tropfen des zähen Stoffs sind bisher aus dem Behälter getropft. Leider verpasste die Webcam wegen eines technischen Defekts einen der beiden Tropfen, die seit ihrer Inbetriebnahme fielen. In rund acht Jahren hat sie die nächste Chance."

Hommage an den Filmarchitekten Ken Adam

Der nächste Tropfen in acht Jahren - das ist womöglich die entschleunigtste Variante von Zukunft, von der das Feuilleton je berichtet hat. Aber immerhin, haben Sie's gemerkt? Es ist Zukunft, von der da die Rede ist! Schauen wir nach vorn. Dabei helfen können ausgerechnet Visionen eines Hundertjährigen:
"Eine Hommage zu Ken Adams 100. Geburtstag" liefert Gerhard Matzig in der SÜDDEUTSCHEN. Der war, so Matzig, "Miterfinder des 007-Universums" und "der berühmteste Filmarchitekt der Welt". Andreas Conrad ehrt den 2016 Verstorbenen im TAGESSPIEGEL unter der Überschrift "Größer als das Leben". Die SÜDDEUTSCHE münzt es in den Slogan: "100 Jahre Zukunft".
Ken Adam, schreibt Gerhard Matzig, "liebte die Verbindung von Architektur, Design, Malerei und Zukunftslust" und wurde "zum Schöpfer von Welten, die gleichermaßen fantastisch und realistisch, utopisch und dystopisch sind. Die vom Raum der Architektur wie von jenem der Erzählung leben. Der Filmarchitekt", heißt es bei Matzig, "schuf eine so realistisch wirkende Zukunft, dass man glaubte, man könne sie mit Händen greifen. Heute, im Zeitalter der Begrenzung und Zukunftstristesse, wäre sein entgrenzender und inspirierender Futurismus nötiger denn je."
Also auf, mit Sir Ken in die nächsten 100 Jahre Zukunft - immer gern auf dem Bildschirm, aber ganz bald bitte auch in echt.
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