Aus den Feuilletons

Verzerrte Weltsicht

In einer Reihe liegen deutsche Zeitungen (vorne die Berliner Morgenpost, der Tagesspiegel und die Welt). Daneben kopfüber eine Reihe ausländischer Blätter.
Journalisten legten den Fokus gerne auf Korruption, Scheitern und Misere, meint Pinker. © Jens Kalaene/dpa
Von Arno Orzessek  · 14.11.2018
Populärwissenschaftler Steven Pinker hinterfragt in der "NZZ" die Rolle der Medien: "Wenn ich eine Zeitung lese oder eine News-Website besuche, muss ich zum Schluss kommen: Diese Welt ist ein Jammertal. Nur, das stimmt nicht", schreibt er.
"Die Toilette war eine großartige Erfindung‘", jubiliert Steven Pinker.
Und die Neue Züricher Zeitung sieht das offenbar ähnlich. Jedenfalls dient ihr die Belobigung der Toilette als Überschrift des Interviews, das René Scheu mit dem kanadischen Kognitionspsychologen führt.

Alles viel besser auf Erden

Darin geht es hauptsächlich um Pinkers optimistische Thesen in "Aufklärung jetzt". Falls Sie das Buch nicht kennen, hier der Inhalt in Kürze:
Auf unserem Planeten läuft alles viel besser, als die meisten denken, denn der Fortschritt feiert seit der Aufklärung auf fast allen Ebenen gewaltige Erfolge und die meisten Menschen profitieren davon.
Warum all das Erfreuliche aber regelmäßig übersehen wird, stellt Pinker in der NZZ klar: "Die Medien präsentieren eine Sicht der Welt, die systematisch verzerrt ist."
Für Renè Scheu ist das ein "happiger Vorwurf", weshalb sich Pinker näher erklärt:
"Zunächst: Schlechte Dinge passieren sehr schnell, gute Dinge hingegen brauchen viel Zeit, bis sie sich etabliert haben und funktionieren. Ein Reaktor kann explodieren, ein Gebäude einstürzen, ein Krieg ausbrechen, ein Terrorist angreifen – das sind News, brandaktuelle, heisse, heissgeliebte News. Aber wenn sich jeden Tag 130 000 Menschen aus extremer Armut befreien, dann ist das keine Schlagzeile wert. Die Journalisten und Intellektuellen legen den Fokus gerne auf Korruption, Scheitern, Misere. Das ist eine bewusste Entscheidung. Wenn ich eine Zeitung lese oder eine News-Website besuche, muss ich zum Schluss kommen: Diese Welt ist ein Jammertal. Nur, das stimmt nicht."
So der Optimist Steven Pinker in der NZZ. Wer sich von ihm anstecken lassen will, lese das ganze Gespräch. Es lohnt sich.

Ein surrealer Ekzess: obszön und großartig

Genauso wie die Lektüre der stärksten Rezension des Tages.
"Obszön, unzumutbar und großartig" nennt Thomas Assheuer in der Wochenzeitung DIE ZEIT Philip Grönings Film "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot."
Ausgangspunkt: Der Gymnasiast Robert steht auf Philosophie, hat die wichtigsten Texte intus und will seiner Zwillingsschwester bei der Abi-Vorbereitung helfen.
Und nun weiter mit ZEIT-Autor Assheuer:
"In einem Kornfeld lassen Robert und Elena sich nieder und breiten ihre Hefte und Bücher aus; Ameisen krabbeln und Grillen zirpen. Elena schmerzt der kommende Abschied von ihrem Bruder, denn nach dem Abitur müssen sie getrennte Wege gehen. Abschied, so sagen es auch Augustinus und Heidegger, ist das Wesen der Zeit; es gibt keine Gegenwart, nur den Übergang von Zeit in Nichtsein. Aber wenn alles fließt: Was ist dann Wahrheit? Auf die Wahrheit, sagt Robert, könne man nur warten, denn sie müsse sich zeigen. Und dann, nach drei langen Stunden, wird sich im Film die Wahrheit zeigen. Sie ist ein surrealer Exzess, sie ist Vergewaltigung, Folter und, man kann’s nicht anders sagen, Faschismus."
Dank Thomas Assheuer erscheint uns Grönings Film so bestürzend wie unheimlich – aber auch: unheimlich interessant. Und Letzteres gilt ebenso für Paolo Sorrentinos "Loro".

Berlusconi: von der Welt verlassener Wahrheitssucher

Laut der Tageszeitung Die Welt handelt es sich bei "Loro" um einen "unfassbar schönen Film über einen zutiefst zweifelhaften Politiker." Sein Name: Silvio Berlusconi.
Andreas Rosenfelder ist hingerissen:
"Den Mann der tausend Showgirls als verzweifelten Liebenden zu zeigen, den größten Betrüger der Welt als von der Welt verlassenen Wahrheitssucher, als einen, der selbst der eigenen Lächerlichkeit furchtlos ins Auge blicken kann – das ist eine so verblüffende, so aufwühlende Idee, dass man, wenn man nach Vergleichen sucht, mindestens bei ‚Citizen Kane‘ von Orson Welles, vielleicht sogar bei den Königsdramen von Shakespeare landet."
Wir sagen: Allerhand, was sich aus dem alten Berlusconi noch zaubern lässt!
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Anne Fromm stellt Auszügen aus Michelle Obamas frischer Autobiographie "Becoming" vergleichbare Stellen aus Bettina Wullfs "Jenseits des Protokolls" gegenüber und lässt die taz-LeserInnen raten, welche Ex-First Lady was geschrieben hat.
Das macht Spaß. Und die Auflösung steht unten.
Tja, heute finden wir keine Überschrift, die unserer Presseschau ein Ende setzt. Also erledigen wir das rasch selbst: Tschüss!
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