Aus den Feuilletons

Verkehrte Welt

Blick auf eine partielle Mondfinsternis am 07.08.2017 hinter einem Baukran bei Gilching (Bayern). Bei einer partiellen Mondfinsternis stehen Sonne, Erde und Mond in etwa in einer Reihe.
Am Freitag erwartet uns die längste Mondfinsternis des Jahrhunderts. Sie soll 103 Minuten dauern. © picture alliance / Peter Kneffel/dpa
Von Arno Orzessek · 26.07.2018
Die Feuilletons stehen ganz im Zeichen des Mondes: Sie beschäftigen sich mit der bevorstehenden Mondfinsternis und dem Werwolf-Film "Gute Manieren". Das Lohengrin-Bühnenbild von Rosa Loy und Neo Rauch bewerten sie zudem völlig unterschiedlich.
"Die bevorstehende Mondfinsternis wirft ihren Schatten voraus" ist eine Stilblüte, die uns gerade ungefragt durchs Hirn schießt. Dass die Mondfinsternis als solche natürlich keinen Schatten wirft, weder voraus noch hinter sich, das bedarf keiner näheren Erklärung. Wohl aber ließe sich sagen: Die Erde wirft stets ihren Schatten - wenn auch im strengen Sinne des Wortes nicht 'voraus' und sobald der Mond in diesen hineinwandert, beginnt die Finsternis.
Warum wir uns solche Gedanken machen, fragen Sie? Erstens zum Spaß; zweitens, um endlich mal die Erkenntnis von Hans Blumenberg loszuwerden, dass wir uns zwar sonnen, aber nicht monden können; und drittens, um auf den Artikel "Das Geheimnis im globalen Schatten" in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG zu verweisen.

In den Kernschatten hineingebrochenes Sonnenlicht

Sibylle Anderl schreibt einen gleichmäßig faktenreichen Text, in dem es heißt: "Mit einer Dauer von 103 Minuten ist diese Mondfinsternis die längste des Jahrhunderts. In den Kernschatten hineingebrochenes Sonnenlicht wird den Mond dabei rostrot färben." Bitte schön, allein diese fünf Worte: "In den Kernschatten hineingebrochenes Sonnenlicht"! Wenn wir so etwas hören, haben wir eine starke Empfindung, die nur im Zusammenhang mit kosmischen Dingen auftritt.
Die behaarte Hand eines Werwolfs hält die Hand einer Frau
Das brasilianische Regieduo Juliana Rojas und Marco Dutra bedient sich des Werwolf-Mythos, um ein Gesellschaftspanorama ihrer Heimat zu erstellen.© Salzgeber & Co. Medien GmbH
Ebenfalls viel Freude, allerdings auf eine ganz andere Art, macht uns der sprachlogisch ziemlich haarige Begriff "ontologische Epilation", den der FAZ-Autor Bert Rebhandl in seiner wohlwollenden Kritik des Films "Gute Manieren" von Juliana Rojas und Marco Dutra verwendet. In offenbar drastischer Weise geht es um Geburt und Aufwachsen eines Kindes alias Werwolfs. Viel klarer als die "ontologische Epilation" ist die Überschrift in der FAZ: "Blutnudeln für die Schwangere."

"Es ist Vollmond, gib mir ein Steak."

Die TAGESZEITUNG bespricht denselben Film unter dem Werwolf-Genre-gerechten Titel "Es ist Vollmond, gib mir ein Steak." Die TAZ-Autorin Jenny Zylka begeistert sich insbesondere für ein Merkmal der brasilianisch-französischen Produktion:
"Dass die Geschichte mit und durch die Augen von Frauen erzählt wird, dass sämtliche emotionalen und Spannungspunkte – Liebe, Gewalt, Schutz, Verlust – ausschließlich von weiblichen Figuren besetzt werden, dass erwachsene Männer kaum vorkommen, aber auch in der Erzählung überhaupt nicht fehlen, und dass der Wolf eher ein Wölfchen ist, das kommt einer Aneignung des Genres gleich. Denn üblicherweise ist eine Frau für einen Werwolf, dessen Physis und Verhalten als urmännlich, animalisch, aggressiv konnotiert wird, meist nur eines: leichte Beute."
Blick auf das "Lohengrin"-Bühnenbild und die Kostüme: Das Künstlerpaar Neo Rauch und Rosa Loy haben beides in diesem Jahr gestaltet. 
Blick auf das "Lohengrin"-Bühnenbild und die Kostüme: Das Künstlerpaar Neo Rauch und Rosa Loy haben beides in diesem Jahr gestaltet. © Festspiele Bayreuth
Ganz groß in allen Feuilletons: Richard Wagners "Lohengrin", mit dem die Bayreuther Festspiele eröffnet wurden. Besonderes Schmankerl - falls denn dieses Wort im Zusammenhang mit dem Grünen Hügel erlaubt ist: die Bühnengestaltung des Künstlerpaares Rosa Loy und Neo Rauch.

Top oder Flop?

In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG bedauert Christian Wildhagen: "Von einer Verbindung zwischen der offenbar tiefschürfend reflektierten, mit allerlei Romantik und Farbensymbolik angereicherten Szenerie und dem über weite Strecken entsetzlich biederen Stehtheater vorm weiten Bühnenrund kann keine Rede sein. Ein stimmiges Ganzes ergibt das alles nicht, vom hier so naheliegenden 'Gesamtkunstwerk' gar nicht zu reden." Krasser Verriss also in der NZZ.
Die FAZ dagegen fand den Abend "haltlos schön". Und in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG kassiert der Lohengrin-Dirigent Christian Thielemann von Reinhard J. Brembeck sprachgewaltiges Extra-Lob: "Thielemann ist immer Klangzauberer. Er kann auch antreiben, Genauigkeit einfordern, große Bogen aussingen, Martialisches krachen lassen und Volkstümliches hinschunkeln. Vor allem aber kann er den Klang auffächern, auffälteln, in sein Farbspektrum zerlegen, abdampfen, wattieren, anschmirgeln. Und so schwebt dieser 'Lohengrin' oft wie eine impressionistische Farborgie daher, die aber nie den tödlich tragischen Gang der Geschichte verschleiert."
Tragisch ist's nicht zu nennen – aber wir sind am Ende. Darum also: Bis demnächst! Wenn uns wieder die Frage beschäftigt, die in der SZ Überschrift wurde: "Was macht die Kunst?"
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