Aus den Feuilletons

Unsterblicher Ruhm durch Massenmord

Massenmörder Anders Breivik vor Gericht in Skien, einer umgebauten Turnhalle des Gefängnisses.
Anders Breivik vor Gericht: Der Mann, der 77 Menschen an einem Tag tötete, wird zum "Vorbild" für Nachahmungstäter © dpa / picture alliance / Lise Aserud
Von Klaus Pokatzky · 26.07.2016
Amoklauf oder Terroranschlag? Die Feuilletons beschäftigen sich derzeit vor allem mit Massenmord. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer vergleicht das Töten in der Süddeutschen Zeitung mit einer Seuche: "Sie breitet sich aus."
"Die wiederkehrende Frage dieses Sommers lautet: Amoklauf oder Terroranschlag?"
Das steht in der Tageszeitung TAZ – und wir sehnen uns nach dem Sommer alter Tage, in dem wir Journalisten über die Sauregurkenzeit jammern durften.
"Bei einem Amoklauf tötet ein psychisch entgleister Einzelner blindlings und wahllos."
So erklärt in der TAZ Isolde Charim:
"Ein politischer Terrorakt hingegen reklamiert für sein Tun, so schrecklich dieses auch sein mag, einen Sinn, ein Ziel und eine Erzählung."
Und was könnte der 18jährige aus München für sich reklamieren, der am Freitagabend neun Menschen und dann sich selbst getötet hat?

Massenmörder wird zur Karriere

"Massenmörder ist eine Karriere geworden", steht in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG.
"Die meisten Täter schaffen sich durch die Tat aus der physischen Welt, hoffen aber auf unsterblichen Ruhm", schreibt der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer: "Diese Formen des Massenmords sind wie eine Seuche. Sie breitet sich aus."
Eine Seuche, die sich bereits in Winnenden und Erfurt gezeigt hat, im norwegischen Oslo und auf der Insel Utøya, in den USA in Orlando und Charleston und der Columbine High School – um nur einige Orte des Tötens und des Leidens zu nennen.
"Die Vorbilder des Münchner Schülers waren Einzelkämpfer", heißt es in der TAZ.
"Sie waren allesamt einsame Wölfe, fühlten sich von der Gesellschaft im Stich gelassen – und hatten sich im Laufe ihrer Vorbereitung ein einfaches Weltbild aufgebaut: 'ich' gegen 'alle anderen'", meint Peter Weissenburger.
"Der Einzelkämpfer ist nicht einsam, er braucht niemanden. Er ist nicht kooperationsunfähig, er ist kompromisslos. Und er hat ein einfaches Weltbild: Ich liege richtig, die liegen falsch."
Überschrift des TAZ-Artikels: "Identität: Rambo."

Eure Welt ist ohne Zukunft für mich

Der Münchner Amokläufer war mindestens einmal ins schwäbische Winnenden gefahren, wo vor sieben Jahren ein Schüler 15 Menschen und sich selbst erschossen hatte. Und nach den bisherigen Ermittlungen hat er sich am Norweger Anders Breivik orientiert, der 2011 77 Menschen ermordete – er besorgte sich im Internet den gleichen Waffentyp wie Breivik, er schoss am fünften Jahrestag von dessen Massaker.
"Das Gesicht der Depression unter jungen Menschen hat sich verändert", meint Wolfgang Schmidbauer in der SÜDDEUTSCHEN: "Inzwischen wird immer deutlicher, dass der Massenmord eine bedeutungsvolle Geste von Menschen ist, die keine andere Perspektive sehen als durch ihre Tat zu sagen: Eure Welt ist ohne Zukunft für mich, ich finde keinen Platz in ihr. Das macht mich so wütend, dass ich möglichst viele von euch töten will, ehe ich selbst draufgehe."
Und der Psychoanalytiker gibt Beispiele, warum manch ein junger Mensch vielleicht seinen Platz in dieser Welt nicht findet:
"Vor vierzig Jahren waren in einer durchschnittlichen Oberschulklasse noch 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit ihrem Aussehen zufrieden. Heute sind das nur noch fünfzig Prozent. Sich kränken und gekränkt werden nehmen rapide zu, je intensiver uns die Bildschirme eine heile Welt voller schöner Menschen vorgaukeln, die attraktiv sind und attraktive Dinge tun."

Soziale Medien und Hysterisierung

Und damit sind wir, natürlich, bei den Medien. "Frisst die Echtzeit uns auf?", fragt in der Tageszeitung DIE WELT Christian Meier und schildert seine Erlebnisse am Freitagabend "im Netz, auf Twitter und Facebook". Da eben, wo vermeintliche Fakten in vermeintlicher Echtzeit präsentiert werden.
"Das trägt zu einer Hysterisierung bei", sagt im TAZ-Interview der Medienethiker und Theologe Alexander Filipović – und fordert Bildungsprozesse, an denen wir alle mitwirken müssen:
"Es geht dabei nicht nur um Kinder, die Medienkompetenz erlernen müssen, sondern um alle Erwachsenen zwischen 20 und 45, die soziale Medien nutzen."
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