Aus den Feuilletons

Unpassende Vergleiche

04:20 Minuten
Auf einem Schild an einem Schaufenster einer Buchhandlung steht. Albert Camus - Die Pest und weitere seuchen- und endzeitrelevenate Weltliteratur leider ausverkauft!
Gerade bei Camus' "Die Pest" werde der allegorische Charakter des Werks zurzeit zur Nebensache, so schreibt die FAZ. Zu groß sei die Hoffnung, darin etwas über die aktuelle Krise herauslesen zu können. © Emmanuele Contini / imago-images
Von Hans von Trotha · 25.05.2020
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"Langsam reicht’s. Nicht jedes Buch sagt etwas über Corona", kritisiert Hannah Bethke in der FAZ die Tendenz der Feuilletons, alte Bücher auf ihre Parallelen zur aktuellen Pandemie hin zu lesen – und ihren historischen Kontext dabei zu ignorieren.
Die Berichtigung ist ein kleines, aber vielsagendes Charakteristikum des gedruckten Feuilletons. "Die Berichtigung hat es in Coronazeiten besonders schwer. Ständiges Desinfizieren und Abstandhalten, Homeoffice und digitale Kommunikation führen zu katastrophal wenig Themen", lamentiert jetzt die TAZ-Kultur.
Und wohin flüchten sich die Feuilletons seit Wochen? Zu Boccaccio, Hobbes, Goethe, Hölderlin, Nietzsche, Camus, Heidegger. Und nicht zu vergessen: zu Kant. Und zu Hegel.

Das westliche Bild des rückständigen China

"Niemand Geringeres als Friedrich Hegel", schreibt die Lyrikerin und Übersetzerin Lea Schneider in der SÜDDEUTSCHEN, "beschrieb China als ein Land 'außerhalb der Weltgeschichte'. Aufgrund ihrer kulturellen Prägung seien die Chinesen nicht in der Lage zu Kants berühmtem 'Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit'. Das Bild des obrigkeitshörigen, quasi-animalischen Asiaten gehört seitdem fest zum europäischen Diskurs. Mit Hegel entwerfen wir China als aus kulturellen Gründen dauerhaft rückständigen Ort."
Während Lea Schneider Kant und Hegel für eine kulturhistorisch ausgeführte These zu unserer Gegenwart aufmarschieren lässt – "Der anti-asiatische Rassismus", meint sie, schade beim Kampf gegen das Virus und nütze außerdem der chinesischen KP – hüpfen uns die anderen Autoren bisweilen wie Springteufel aus den Feuilletonseiten entgegen.

Über vermeintliche Vorahnungen großer Autoren

So meint Manfred Osten in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG mit vollem pathetischen Ernst: Wir finden "bei den Dichtern Texte, die unsere Zeit vorwegzunehmen scheinen". Wirklich?
"Was erst jetzt langsam auf uns zuzukommen scheint, hatte vor genau 233 Jahren bereits Goethe sich vorzustellen gewagt. Am 8. Juni 1787 vertraut er Frau von Stein an, Herder habe mit einer abgründigen Vision aufgewartet: Er fürchte, dass die Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner Krankenwärter wird."
Und Osten hat gleich noch eine verlockende Goethe-Stelle parat: "So halte ich mich von der Welt zurückgezogen, um gesund zu bleiben, und finde mich so in meinen Obliegenheiten noch gewachsen."
Klingt vernünftig und nachvollziehbar - und hat genau so wenig mit Corona zu tun wie eine Sentenz von Nietzsche, die Osten noch nachschiebt: "Krankheit sei 'jedesmal die Antwort, wenn wir anfangen, es uns irgendworin leichter zu machen'."
Als hätte sie das schon gelesen, ruft Hannah Bethke in der FAZ unwirsch dazwischen: "Langsam reicht’s. Nicht jedes Buch sagt etwas über Corona."
"Heute schon Hölderlin gelesen?", bricht es regelrecht aus ihr heraus, "Oder Blaise Pascal? Martin Heidegger? Thomas Hobbes? Und natürlich unbedingt und immerwährend: Albert Camus? Schon im Hype um Camus konnte man sich wundern, wie schnell der allegorische Charakter des Werks zur Nebensache wurde."

Anmaßende Parallele zu Opfern des NS-Regimes

Das, meint sie, sei "aber noch gar nichts gegen die Umdrehungen eifriger (oder vielleicht eher flüchtiger) Leser, die wie bei einem Horoskop alles und jeden atemberaubend passgenau für den gegenwärtigen Alltag machen. Hölderlin: der freiheitsliebende Autor für die Isolation! Pascal: hat schon immer gewusst, dass Homeoffice eine ganz schwierige Herausforderung ist, komme doch alles Unglück der Menschen daher, 'dass sie nicht verstehen, sich ruhig in einer Stube zu halten' . Heidegger: Man denke an die Lichtung des Seins, in der das Ich alleine steht."
"Vollends abstrus, in der Ahistorizität nachgerade ärgerlich und zudem geschmacklos" wird es Bethkes Meinung nach, wenn "die Verfolgten des NS-Regimes dafür herhalten müssen, uns in der Corona-Zeit zu trösten."
"Das Tagebuch der Anne Frank" sei "das Buch der Stunde", zitiert Bethke den TAGESSPIEGEL. "Denn Anne Frank zeige uns, wie man Isolation verarbeiten könne: durch Introspektion."
"Anmaßend" findet es Hannah Bethke, hier eine Parallele zu Opfern des NS-Regimes zu ziehen: "Lasst die Werke in ihrem historischen Kontext, nicht alle Lesefrüchte passen in die Gegenwart - und noch weniger sollten sie, nur weil uns selbst nichts Besseres einfällt, passend gemacht werden."
So gesehen, könnten rückblickend auf die letzten Monate womöglich einige Berichtigungen in den Feuilletons anstehen. Und am Ende gilt eh: Glaube keiner Parallele, die Dir nicht selbst aufgefallen ist. Und selbst da sollte man immer erstmal vorsichtig sein.
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