Aus den Feuilletons

Seid egoistisch und unhöflich!

04:22 Minuten
Leila Slimani blickt in Richtung des Betrachters.
Leïla Slimani sieht das Schreiben als emanzipatorischen Akt. © picture alliance / dpa / Uwe Zucchi
Von Arno Orzessek · 28.05.2021
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Die marokkanische Schriftstellerin Leïla Slimani rät in der "Welt" jungen Frauen dringend zum Schreiben. Gerade weil es "eine egoistische Angelegenheit ist". Dafür müsse man sich nämlich einen Freiraum gegenüber Mann und Kindern erkämpfen.
Gewiss, die Erinnerung ist ein unsicherer Zeuge. Aber dass wir an dieser Stelle schon einmal einen Klinik-Clown zitiert haben, schließen wir mit Überzeugung aus. Darum also: Premiere!

Die Kraft der provokativen Intervention

In der TAZ erklärt der Klinikclown Andreas Bentrup, wie er vorgeht, um maladen Menschen im Krankenbett "eine neue Perspektive" zu geben:
"Wenn du ein vierjähriger Junge bist, der gerade einen Autounfall hatte, werde ich zum Beispiel fragen: 'Sag mal, wie geht's jetzt dem Auto? Ist das kaputt oder tut's dem weh? Kümmert sich irgendjemand darum?' In dem Moment wirst du abgelenkt von deinem eigenen Schmerz und ihn nicht mehr so sehr empfinden. Das nennt man provokative Intervention."
Erfrischend anders inmitten der Betroffenheitskultur: Der Klinikclown Andreas Bentrup.

Ein Ratschlag für junge Frauen

Ob es wohl eine provokative Intervention sein soll, dass die Tageszeitung DIE WELT die marokkanische Schriftstellerin Leïla Slimani "Frankreichs neue Françoise Sagan" nennt - und zwar in der Unterschrift unter einem Foto der Gefeierten? Slimani erklärt nämlich ausdrücklich, dass sie Titulierungen wie "die neue Sagan" gern von sich "abprallen" lässt: "Wichtiger als die Frage, wer man ist, ist die Frage, was man macht. Wir werden durch unser Handeln definiert."

Slimani, die zuletzt die Familiensaga "Das Land der anderen" vorgelegt hat, rät jungen Frauen dringend zum Schreiben - mit der bemerkenswerten Begründung:
"Weil das Schreiben eine egoistische Angelegenheit ist. Es verlangt Einsamkeit, Konzentration, man braucht einen Ort und Zeit dafür. Wer diesen Freiraum genießen will, muss sagen: Ich gehe jetzt nicht einkaufen, ich kümmere mich nicht um die Kinder, ich habe jetzt gerade keine Lust, dir alles recht zu machen oder dir einen Gefallen zu tun. Ich möchte an mich denken. Ich möchte Dinge aufschreiben, die ich sonst nicht ausdrücken kann. Ich kann nur jeder Frau raten, egoistisch und unhöflich zu sein."

Appell eines Schriftstellers aus Belarus

Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG titelt voller Optimismus "Am Ende wird uns das Wort retten". Ohne das zu erkennen wäre, ob sie auf den ersten Satz des Johannes-Evangeliums anspielt: "Im Anfang war das Wort…".
Eine bittere Überschrift der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG lautet dagegen: "Worte sind immer zu spät". Der Schriftsteller Alhierd Bacharevic beschreibt die Lage in Belarus nach der Inbesitznahme des Ryanair-Flugzeugs und der Entführung des Aktivisten Roman Protassewitsch in finsteren Farben - und wendet sich an Europa:
"Man sagte uns, wir hätten verloren. Aber wie kann man von Sieg und Scheitern reden, wenn eine bewaffnete Bande gegen unbewaffnetes Volk steht? Das ist kein Sport. Belarus erwartet von der Welt, dass sie endlich ihr Wort sagt. Belarus ist Europa. Lange Zeit hat es uns sehr gut geholfen, Weinen und Lachen, Tränen und Ironie. Aber Belarus kann nicht mehr weinen. Belarus kann nicht mehr lachen. Belarus wird ermordet. Vor aller Augen. Belarus schreit: Hilfe! Sagt euer Wort, tut eure Tat. Bevor es zu spät ist." So emotional wie unkonkret: Alhierd Bacharevic in der FAZ.

Hilflosigkeit nach dem Ende der bipolaren Welt

In der WELT gesteht der Historiker Karl Schlögel, dass ihm angesichts der Entführung Protassewitschs durch das Lukaschenko-Regime die Worte fehlen:
"Wir merken bei einer solchen Aktion, dass sie unsere Vorstellungskraft übersteigt, wir sind überrumpelt und sprachlos und flüchten uns in Formeln wie 'beispiellos', 'Staatsterrorismus' usf. Das ist alles richtig, aber zeigt nur, dass wir nicht auf der Höhe der Zeit sind: Alles ist jederzeit möglich. Wir haben im letzten Jahr auch nicht glauben können, dass friedliche, heitere, singende Demonstranten zusammengeschlagen, gefoltert, getötet werden. Der Verweis auf den alten Kalten Krieg ist nicht hilfreich. Es handelt sich um eine ganz neue Situation nach dem Ende der bipolaren Welt."
Übrigens: Alle Feuilletons feiern 50 Jahre "Polizeiruf 110" - die "Tatort-Konkurrenz aus dem Osten", wie es in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG heißt. Doch unsere Zeit ist um.
Nur noch ein Blick in die Zukunft. Gestützt auf aktuelle Wetterdaten prophezeien wir, wohin am Wochenende viele von Ihnen gehen werden. Nämlich, mit den Worten einer SZ-Überschrift: "In die Sonne".
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