Aus den Feuilletons

"Seid doch mal ein bisschen nett"

Besucher auf der "re:publica" Internet-Konferenz 17 unter dem Motto "Love Out Loud"
Besucher auf der "Republica"-Internet-Konferenz 17 unter dem Motto "Love Out Loud" © imago/IPON
Von Arno Orzessek · 10.05.2017
Mit leiser Ironie berichtet die "SZ" über die Aufrufe auf der Republica, dem Hass im Netz mit Dialogbereitschaft zu begegnen. Wo heute um Geduld und Nachsicht gebeten werde, hätte es früher nicht schnell genug gehen können.
Preisfrage vorab: Welche eminente Person der Zeitgeschichte hat jüngst folgende, in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG nachzulesenden Worte verlautbart?
"'Wir brauchen keine ungebildete Jugend, die uns gehorcht, ohne Fragen zu stellen, wir brauchen eine Jugend, die weiß, woran sie glaubt, wofür sie eintritt, wofür sie kämpft.'"
Aus unserer Sicht handelt es sich um einen rhetorischen Trick: Der Sprecher versteckt seinen autoritären Anspruch hinter der Attitüde des Aufklärerischen, die jedoch von seiner reaktionären Sprechhaltung als Täuschung entlarvt wird.
Falls Sie nun argwöhnen, liebe Hörer, dass wir das alles weniger trefflich analysiert hätten, wenn uns nicht vorab bekannt gewesen wäre, dass hier Recep Tayyip Erdogan spricht – nun, dann teilen wir Ihren Argwohn gegen uns.
Fest steht, dass auch der FAZ-Autor Bülent Mumay keinen Pfifferling auf die Erdogansche Begeisterung für die kritische Jugend gibt, sondern festhält:
"Wer kritisch denkt, wird bestraft."
"Die Adresse von Journalisten und Wissenschaftlern, die der Wahrheit auf der Spur sind […], ist mittlerweile das Gefängnis, oder die Tür der Universität, vor die sie gesetzt wurden. Wer ein solches Schicksal nicht akzeptieren will, bricht oftmals zu einem frühen Tode auf. Zwei Wissenschaftler, die ihre Stellen verloren haben, […] sind vor über zwei Monaten […] in einen Hungerstreik getreten. Nuriye Gülmen und Semih Özakça […] sehen als einzigen Ausweg, sich zum Sterben hinzulegen. […] Ihre Antwort an Besucher, die sie bitten, die Aktion abzubrechen lautet: 'Das Ende der Worte ist erreicht.'"
So der FAZ-Autor Mumay unter der Überschrift "Die türkische Polizei verhaftet auch Bücher."

Zusammenarbeit mit den Algorithmen

Und jetzt ein großer Sprung nach vorn – vom Analogen zum Digitalen.
Die Tageszeitung DIE WELT führt ein Gespräch mit dem israelischen Zukunftsforscher Yuval Noah Harari, Autor des Bestsellers "Eine kurze Geschichte der Menschheit", dessen neues Buch "Homo Deus" heißt.
"Um die heutige Welt zu verstehen [so Harari], muss man unglaubliche Mengen an Daten auswerten. Vielleicht haben wir die Grenzen des menschlichen Verstandes erreicht? Ich würde vermuten, dass schon heute niemand wirklich versteht, was in der Welt geschieht, und dass Menschen praktisch keine rationale Entscheidung mehr treffen können – weder in ihrem Privatleben noch sonst. Die einzigen Systeme, die alle relevanten Daten verarbeiten können, sind Big-Data-Algorithmen. Im Idealfall finden wir Menschen einen Weg, um mit ihnen zusammenzuarbeiten."
Um die Zusammenarbeit mit den Algorithmen, die Harari in der WELT anspricht, geht es auch auf der Re:publica in Berlin.

Kehrseite der Utopien im Internet

In diesem Jahr muss sich die Blogger-Konferenz allerdings einem fiesen Trend stellen, wie die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG unter der etwas unfreundlichen Überschrift "Stumpf ist Trumpf" berichtet.
"Seit der letzten Ausgabe der Konferenz manifestiert sich im Internet die Kehrseite der Utopien, die gut zehn Jahre die Hauptrolle auf der Republica spielten. [:] Transparenz der Institutionen bei gleichzeitiger Anonymität der Nutzer, die Möglichkeit für alle und jeden mitzureden und das Versprechen, dass daraus automatisch respektvoller Dialog entsteht. Nie aber ist die Sprechsituation weniger ideal als im Internet. Es ist leider so, dass der Umgang mit den Trollen und […] [den] Miesmachern, so wie er hier […] jahrelang gepredigt wurde, nicht mehr funktioniert."
Und was fällt den Internet-gläubigen Republica-nern ein, um dem Netz-Hass abzuhelfen?
SZ-Autor Michael Moorstedt erklärt es mit leiser Ironie.
"'Seid doch mal ein bisschen nett', sagte ein Redner […]. Und ein anderer Redner […] brachte auch noch die Worte Geduld und Verständnis ins Spiel. Die Bitte zum Dialog, der Mut dazu, auch einmal innezuhalten, wird so zur radikalsten Forderung einer Veranstaltung, der es bislang nie schnell genug gehen konnte."
Tja! Allen, denen der Geduldsfaden trotzdem mal reißt, geben wir mit einer Überschrift der TAGESZEITUNG zu bedenken:
"Kung-Fu ist immer von Vorteil."
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