Aus den Feuilletons

Seehofers Eigentor

04:13 Minuten
Bundesinnenminister Horst Seehofer schaut nachdenklich.
Falls Innenminister Seehofer wie angekündigt die "taz"-Kolumnistin wegen ihres Textes über die Polizei verklagt, sei das ein Angriff auf die Pressefreiheit, meint der "Tagesspiegel". © picture alliance/Felix Schröder/dpa
Von Hans von Trotha · 22.06.2020
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Die Polizei-Kolumne in der "tageszeitung" beschäftigt die Feuilletons. Die Idee von Innenminister Seehofer, Strafanzeige gegen die Journalistin zu stellen, findet keinen Beifall. Der "taz"-Text allerdings auch nicht.
Konnte man lang den Eindruck haben, es würde nie wieder um etwas andere gehen als um das Virus, kommen die Disputanden jetzt kaum noch hinterher. Da ist die Frage: Wie steht es um People of Colour in der Kultur? Spoiler: beschämend; in der SÜDDEUTSCHEN legt das Susan Vahabzadeh am Beispiel der Bedeutung afroamerikanischer Filmemacher für Hollywood dar.
Außerdem: War Kant ein Rassist? Das ist eigentlich schon durch, aber die FAZ will es einfach noch einmal titeln, also: Ja, "Kant war ein Rassist". Dazu stellt der Frankfurter Philosoph Marcus Willaschek fest, was gemeinhin Konsens ist - "dass der bilderstürmerische Gestus derjenigen, die Kant nun vom Podest stoßen wollen, nur die beeindrucken kann, die ihn zuvor auf ein solches gestellt haben".
Und dann kommt auch noch Horst Seehofer. Das, schreibt Markus Ehrenberg im TAGESSPIEGEL, "nennt man wohl einen 'Bundes-Anzeiger', oder, Spaß beiseite, einen Angriff auf die Pressefreiheit?" Gemeint ist die Strafanzeige gegen eine taz-Kolumistin. "Sich selbst", meint Ehrenberg, dürfte Seehofer "mit der Aktion keinen Gefallen getan haben. Der Pressefreiheit als solcher vielleicht schon."

Superradikal zum Buchvertrag

Und dem Nachruhm des in Frage stehenden Textes. "Die unsägliche Kolumne hat nun wohl eine Bestandsgarantie", meint Michael Hanfeld in der FAZ. Erst durch die Anzeige sei "aus der Diskussion über einen hasserfüllten Text eine Debatte über die Pressefreiheit geworden, als deren erste Repräsentantin sich die Kolumnistin der taz nun fühlen darf."
Hanfeld fügt einen konjunktivischen Vorwurf hinzu: "An der Debatte darf einen freilich die Scheinheiligkeit stören, wenn es um moralische und presseethische Maßstäbe geht. Würde man in den Text an die Stelle von 'Polizisten', die mit Müll gleichgesetzt werden, andere gesellschaftliche Gruppen setzen, wäre die Reaktion derjenigen, die die Kolumne verteidigen, sicherlich eine andere."
In eine ähnliche Richtung geht das Fazit von Denis Yücel in der WELT. Er spricht von einem "Kreis von antirassistischen und queerfeministischen Autorinnen und Autoren", die einen "Trick" anwenden, nämlich: "mit einer superradikalen Malcolm-X-Attitude auftreten, wo man sich auf die Anerkennung des linksliberalen Kulturestablishments verlassen kann. Ein Kolumnenplatz, ein Buchvertrag, ein paar Fördergelder, irgendwas wird dabei schon rausspringen", ätzt Yücel.
Davor ist sein Text ausgesprochen persönlich. Er erinnert daran, wie die AfD-Fraktion im Bundestag beantragte, "die Bundesregierung möge Texte 'missbilligen'", die er während seiner Zeit als "taz"-Redakteur veröffentlicht hatte. Und er erzählt, wie er im türkischen Gefängnis "systematisch Misshandlungen und Psychofolter ausgesetzt war".
"Und als wir an einem Mülleimer vorbeikamen, drohte einer: 'Ich werde dich den Mülleimer grüßen lassen. Denn du bist auch Müll'", um hinzuzufügen: "Natürlich ist es nicht dasselbe, ob jemand in einer Zeitung irgendwas schreibt oder ob Vertreter der Staatsmacht einen Gefangenen erniedrigen. Aber vielleicht erklärt diese Geschichte, warum ich diese Wortwahl nicht nur für grundfalsch halte, sondern persönlich nehme."

Kritik der Entvernunftisierung

Jürn Kruse übernimmt den aktuellen taz-Beitrag zum Thema. Er fragt: "Was für eine Scheiße geht bitte gerade ab?" und variiert den Seehofer-Satz: "Eine Enthemmung der Worte führt unweigerlich zu einer Enthemmung der Taten und zu Gewaltexzessen" zu: "Eine Entvernunftisierung der Politik führt unweigerlich zu bescheuerter Politiksimulation."
Es gehe doch nur "darum, ein Zeichen zu setzen. Den Rächer zu spielen. Ich frage mich", so Kruse nachdenklich, "was für eine politische Landschaft meine Kinder eigentlich vorfinden, wenn sie selbst groß genug sind, um sich einzumischen. Kriegt meine Generation es noch hin, der Entvernunftisierung entgegenzuwirken?"
Abgesehen davon, dass das kein besonders schönes Wort ist, hat er mit der Frage schon Recht. Daran anschließen lässt sich Marcus Willascheks Hinweis in der FAZ, das Beispiel Kant könne uns "ein wenig Bescheidenheit lehren, was unsere eigenen moralischen Urteile angeht. Wenn es selbst Kant nicht gelang, seine moralischen und politischen Grundüberzeugungen konsequent zu durchdenken und gravierende Fehlurteile zu vermeiden, wie wollen wir ausschließen, dass auch einige unserer Urteile und Praktiken sich im Nachhinein als moralisch unhaltbar erweisen?"
Beide Fragen gehen an Kolumnistinnen, Minister und alle anderen, die Feuilletons lesen oder gar in ihnen schreiben.
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