Aus den Feuilletons

Schwüle Stimmung im herbstlichen Europa

Moseltal im Herbst, auf dem Hügel: die Reichsburg
"Nicht jenen, die fortgehen, gehört der Herbst, sondern jenen, die dableiben", schrieb der Dichter Yilmaz Erdogan. © picture alliance / Klaus Rose
Von Hans von Trotha · 11.09.2018
Hans Magnus Enzensberger sinniert in der Neuen Zürcher Zeitung über das fragile Glück auf der Insel der Seligen namens Europa. Erdogan baut sich einen Palast nach dem nächsten. Und die taz schreibt die Stelle des Verfassungsschutz-Präsidenten neu aus.
Es scheint Herbst zu werden. In jeder Hinsicht. Die NZZ macht mit einem Zwischenruf von Hans Magnus Enzensberger auf, kein elaborierter Text, eher eine Assoziation unter der Überschrift "Europa – Insel der Unseligen".

Europa: Insel der Seligen

"Im Vergleich zu den Religions- und Bürgerkriegen auf anderen Kontinenten ist Europa eine Insel der Seligen", schreibt Enzensberger. "Man kann hier gewöhnlich die Straße überqueren, ohne dass geschossen wird." Aber, fährt er fort, "die Ruhe ist trügerisch, und keine Regierung kann den Europäern versprechen, dass sie sicher vor organisierten, freiwilligen und spontanen Terroristen sind. Überall Kontrollen, bewaffnete uniformierte und getarnte Einsatzkräfte, Überwachungskameras, Spitzel, Geheimdienste, die sich als Herren aufspielen, Provokateure, Flüchtlinge, Migranten, Asylsuchende, gefährliche Hassprediger, die abgeschoben werden sollen – aber wohin? Niemand will sie haben. Überall, in Paris, in London, in Berlin und Madrid, machen sich Verdruss, Verdacht und Misstrauen breit: eine labile und schwüle Stimmung. Ahnungsvolle Geister", so schließt Enzensberger, "wollen bemerkt haben, dass sie von der, die 1914 herrschte, nicht weit entfernt ist."

Keine US-Western mehr in der Türkei

In der Türkei ist immerhin insoweit noch alles in Ordnung, als es für jede Wirkung eine Ursache gibt. Nämlich Donald Trump. Und darauf wird reagiert. Bülent Mumay berichtet in der FAZ:
"In der Türkei war Ende der achtziger Jahre alles im Wandel, aber die Sendezeit für Western am Sonntagmorgen um 09:55 Uhr blieb stets dieselbe. Diese Westernreihe der alten Türkei setzte sich im staatlichen Fernsehen auch in Erdogans 'neuer Türkei' fort – bis Präsident Trump anfing, auf Twitter gegen die Türkei zu wettern. Der staatliche Sender TRT beschloss, aus Protest gegen die amerikanische Politik, die Western aus dem Programm zu nehmen!" – Ausrufezeichen.

Erdogan waltet wie die alten Osmanen

Auch für die Bauwirtschaft tut Erdogan etwas: "Vor ein paar Monaten hatte Erdogan den Grundstein für seinen Sommerpalast gelegt; jetzt gab er bekannt, Anweisungen für einen dritten Palast erteilt zu haben. Es läuft", so Bülent Mumay, "genauso wie in der Endphase der Osmanen, Erdogans großen Vorbildern. In den letzten Jahren des Osmanenreiches führte die Errichtung bombastischer Prachtbauten letztlich zum wirtschaftlichen Ruin des Staates."
Da legt jemand den Finger an den Punkt, an dem der Staat ins Wanken gerät. Das haben in ihrem Streitgespräch über den Rechtsstaat und die RAF auch Klaus Pflieger, einst Generalstaatsanwalt in Baden-Württemberg, und Hans-Christian Ströbele, laut Paul Ingendaay "Kultfigur der Berliner Republik", getan, wie berichtet. Ingendaay fasst zusammen, auch das in der FAZ: "Ströbele fand, der Rechtsstaat habe sich 'in dieser Bewährungsprobe nicht bewährt'. Pflieger dagegen sah allenfalls, dass der Rechtsstaat 'gewackelt' habe, am Ende jedoch habe er sich bewährt."

Ganzseitige Stellenausschreibung in taz

Wo die FAZ sich derart geballt darauf verlegt, uns Staaten im Moment des Schwankens vor Augen zu führen, greift die taz immerhin zu konstruktiven Maßnahmen. Ganzseitig macht sie mit einer Stellenbeschreibung auf. Motto: "Im Verborgenen Gutes tun."
Gesucht wird "zur Verstärkung unseres Teams an den Dienstorten Köln und Berlin" ein "Präsident für das Bundesamt für Verfassungsschutz".
Unter "Aufgaben" werden unter anderem "persönliche Beratung politischer Parteien, wie eine Beobachtung durch die eigene Behörde zu vermeiden ist" und "Einflussnahme auf die politische Stimmung im Land" genannt. Zum Angebot seitens des Arbeitgebers gehören "absolute Loyalität ihres obersten Dienstherren und des gesamten Teams; maximaler Handlungsspielraum bei minimaler parlamentarischer Kontrolle" sowie "jeden Tag frisches Obst".
Unter "Erwartungen" steht formuliert: "Medienkompetenz und Expertise im Umgang mit Falschmeldungen; routinierter Umgang mit allen handelsüblichen Schredder-Modellen; lila Anzüge."
Herbst. Ich sag´s ja.
Aber an den Herbst müssen wir uns erst noch gewöhnen. Paul Ingendaay bemerkt zum Streitgespräch über die RAF, der Auftakt sei "spätherbstlich" gewesen, was sich darauf bezieht, dass man, wie Ströbele bemerkte, "vieles nicht mehr so genau weiß". Die Kunst wird sein, sich an den Herbst zu gewöhnen und trotzdem nicht wegzugehen, getreu einem Gedicht von Yilmaz Erdogan, aus dem Bülent Mumay in der FAZ zitiert:
"Nicht jenen, die fortgehen, gehört der Herbst, sondern jenen, die dableiben."
Mehr zum Thema