Aus den Feuilletons

Punk für zwei Tage

Von Tobias Wenzel · 27.02.2014
Die WELT beglückwünscht die SPD zu ihrem designierten Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner, die TAZ und die FAZ freuen sich in Anbetracht der Nominierungen auf die Oscar-Verleihung am Sonntag und die NZZ schaut mit Sorge auf vom Staat geduldete Bürgerwehren in Mexiko.
"Gott, Junge, tut das nicht furchtbar weh?“ Das fragten zwei ältere Frauen Tim Renner an einer Bushaltestelle, als der mit einer Sicherheitsnadel ein Piercing am eigenen Körper vollzog. Damals, als Renner noch kein Musikmanager, sondern Punk war. Das Punkdasein gab er schon nach zwei Tagen auf, wohl auch wegen der ausschließlich besorgt klingenden beiden Damen: "Meine Wirkung als Gesellschaftsschreck war äußerst begrenzt.“
Diese Anekdote ist in Christian Schröders Artikel über den designierten Kulturstaatssekretär Berlins im TAGESSPIEGEL zu lesen. Schröder ist angetan von der Wahl des Regierenden Bürgermeisters. "Chapeau, Klaus Wowereit, zu dieser Entscheidung!“, ruft Ulf Poschardt in der WELT aus. Ihn wundert es nicht, dass Tim Renner SPD-Mitglied ist:
"Die SPD hat die zeitgenössische Kultur immer schon besser verstanden als die bürgerlichen Parteien. Willy Brandt war Popstar der Intellektuellen und Künstler, Helmut Schmidt spielte Klavierkonzerte ein und Gerhard Schröder saß Wein trinkend an den Stammtischen der Bohème. […] hedonistische Instinktpolitik.“
Und zum optimistischen Musik-Unternehmer Renner:
"Mit anderen Managern seiner Generation hat er die Digitalisierung der Vertriebskanäle vorangetrieben und damit das von Kulturpessimisten hartnäckig geläutete Totenglöckchen verschrottet.“

Oscar-Statuen in Folie verpackt für den "Governor's Ballroom" auf den 86. Academy Awards in Hollywood am 27. Februar 2014.
Oscar-Statuen in Folie verpackt für den "Governor's Ballroom" auf den 86. Academy Awards in Hollywood am 27. Februar 2014.© picture alliance / dpa / Michael Nelson
Kein "Abgesang aufs Kino"
Totgesagte leben länger. Auch der gute Kinofilm. An diesem Sonntagabend werden die Oscars verliehen. Wer sich die Liste der nominierten Filme ansehe, so Sven von Reden in der TAZ, dem falle es schwer,
"in die Klage vieler Filmemacher, darunter Steven Soderbergh und Steven Spielberg, einzustimmen, die dem mittel budgetierten Qualitätskino aus Hollywood bereits den Totenschein ausgestellt“
hätten.
Auch für Verena Lueken von der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG stehen die diesjährigen Oscar-Nominierungen im Widerspruch zu diesem "Abgesang aufs Kino“. Typische Hollywood-Filme, die auf "zu vermarktende Schlichtheit und folgenlose Zerstörungswut“ setzten, seien in der Hauptkategorie "bester Film“ gar nicht nominiert. "Gravity“ und "Wolf of Wall Street“ seien recht teuer in der Produktion gewesen:
"Alle anderen Filme, die 'bester Film‘ werden können, habe Budgets, für die in Hollywood kaum noch jemand sein Frühstück unterbricht, zwischen 20 und 50 Millionen – und spielten ein Vielfaches wieder ein. Und das, obwohl sie keineswegs sprachlose, generische Aktion zeigen, sondern subtile Dialoge, komplexe Geschichten, und sogar: Ironie.“
Erst Bürgerwehr dann Paramilitär
Von den zu unrecht Totgesagten zu denen, die das Recht in die Hand nehmen, um zu überleben und dann oft selbst zu töten. Der kolumbianische Schriftsteller Héctor Abad berichtet in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG mit großer Sorge über Bürgerwehren, die sich in Mexiko als Reaktion auf die Gewalt der Drogenbanden gebildet haben und die der Staat duldet. Nach dem Motto: "Der Feind meines Feindes ist mein Freund.“ Wohin das führt, weiß Héctor Abad nur zu gut aus seinem eigenen Land. Vor 25 Jahren ließ der kolumbianische Staat im ermüdenden Kampf gegen Drogenkartelle und Rebellen die Bürgerwehr "Convivir“ einfach schalten und walten. Die Mitglieder von "Convivir“, so Abad, hätten sich aber bald in "geheime paramilitärische Gruppen“ verwandelt, die sich durch das auszeichneten, was sie eigentlich bekämpfen wollten:
"Entführungen, Ermordungen, Drogenhandel, Schutzgelderpressung.“ Das Fazit Héctor Abads: "Wer die Existenz privater Heere erlaubt, auch wenn es sich dabei um Selbstverteidigungsgruppen handelt, lässt ein Ungeheuer wie die Hydra entstehen: Für jedes abgeschlagene Haupt wachsen ihm zwei neue.“
Gegen die Hydra des finanziellen Ruins hat der Verleger Gerd Haffmans, der an diesem Freitag 70 wird, viele Jahre gekämpft, bis er schließlich seinen eigenen, nach ihm benannten Verlag aufgab. Man muss sich Haffmans dabei wohl als glücklichen Menschen vorstellen. Jedenfalls zitiert die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG ihn mit dem Satz: "Wenn es sein muss: fröhlich und feste aus dem letzten Loch.“
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