Aus den Feuilletons

Publikumsbeleidigung mit Hochmut an der Volksbühne

"Volksbühne" steht am 30.08.2017 in Berlin am frühen Abend auf der Außenfassade über dem Haupteingang zum Theater Volksbühne.
Die Volksbühne startet unter Chris Dercon in die neue Saison. © picture alliance / Paul Zinken/dpa
Von Tobias Wenzel · 12.11.2017
Chris Dercons Start am Stammhaus der Volksbühne gerät bei den Feuilletonistas zum Wettbewerb um den schärfsten Verriss. In einem neuen Geschichtspark in Moskau gibt es dagegen Wohlfühllügen satt. Hilft Dercon auch nicht weiter.
"Der erste Eindruck nach drei Einaktern von Samuel Beckett und diversen ‚Interaktionen‘ von Tino Sehgal: Die Volksbühne atmet an diesem Abend, man wagt es kaum hinzuschreiben, tatsächlich mehr den Geist eines Museums als den eines Theaters."
Das schreibt Christine Dössel in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG über den ersten Premierenabend unter der Intendanz des früheren Museumsmannes Chris Dercon an der Berliner Volksbühne. Es ist das bestimmende Thema der Feuilletons vom Montag.

Dämonen bannen mit dem Räuberrad

Dössels Theaterkritikerkollegen hatten keine Hemmungen, den Abend komplett zu verreißen: "Das ist öde, aus der Zeit gefallen, in seiner Egalheit anstrengend und frappierend humorlos", urteilt Jan Küveler in der WELT. "Leider taugt das mehr für Programmheftprosa als für Theatergängeraugen."
Und was machen die Castorf-Freunde und Dercon-Feinde, die das schon längst prophezeit hatten?
"Der Hass ist mit Händen zu greifen", schreibt Küveler.
"Im Internet und draußen vor der Tür ziehen verlorene Ex-Besetzer rum, mit Schildern, auf die sie das mythische Logo der alten Volksbühne gepinselt haben, das Räuberrad, als könne man damit Dämonen bannen oder eben die neue Verwandtschaft. Geht natürlich nicht. Deshalb: schmollen."
Wenn diese Protestler nicht "so programmlos und einfältig" gewesen wären, hätte Simon Strauß vielleicht mit ihnen zusammen den Aufstand geprobt, deutet er in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG an. Aber so ist das nicht sein Niveau.
Genauso wenig wie dieser Dercon-Auftakt:
"Was hier passierte, war nichts anderes als eine Veralberung des Publikums. Als wolle der Intendant seine Kritiker vorführen, indem er es geradewegs darauf anlegt, jedes ihrer Vorurteile zu bestätigen."
Eine "Beleidigung" für Publikum wie für Darsteller sei dieser Eröffnungsabend gewesen; es zeuge von "höhnischem Hochmut", dazu überhaupt einzuladen.
"Theaterverweigerung als anderer Name für Einfallslosigkeit?", fragt der tief enttäuschte Simon Strauß. "Wenn es so wäre, müsste man das Haus wirklich besetzen."

Gegen die Geschichte als wissenschaftliche Disziplin

Wer einen positiveren Blick auf den Einstand Dercons haben möchte, der könnte das russische Kultusministerium und die Russisch-Orthodoxe-Kirche mit einer Kritik beauftragen. Jedenfalls haben die einen Geschichtspark konzipiert und damit bewiesen, gut darin zu sein, die Wirklichkeit durch Wohlfühllügen zu ersetzen. Kerstin Holm berichtet in der FAZ über diesen in Moskau zu sehenden Park "Meine Geschichte". Da werde einfach behauptet, es sei nicht wahr, dass Zar Iwan der Schreckliche seinen Sohn umgebracht hat. Sergej Schurawljow, ein angesehener Historiker, ist sich sicher, dass der Geschichtspark "die Jugend nicht aufklären, sondern Propaganda für die Interessen des Staates machen soll".
Um Schadensbegrenzung zu betreiben, hat der Historiker dem Projekt als Berater zur Seite gestanden:
"Dadurch habe er verhindern können, dass die Revolution von 1917 verschwörungstheoretisch als das Werk von Verrätern, Freimaurern und Agenten westlicher Interessen hingestellt wurde und nicht auch als Folge innerer Probleme".
Das wirkt fast schon wie ein Erfolg. Denn, so Holm, der russische Kulturminister Wladimir Medinski habe sich "offen gegen die Geschichte als wissenschaftliche Disziplin ausgesprochen" und dafür plädiert, durch "Mythen" "Staat und Nation" zu stärken.

Chinas Singles kaufen sich glücklich

Ihr Selbstbewusstsein stärken partnerlose Chinesen jedes Jahr am 11.11., indem sie an diesem "größten Verkaufstag der Menschheitsgeschichte", wie es Felix Lee in der TAZ ausdrückt, wie verrückt im Internet shoppen. Frustkäufe gegen das Allein-Sein. Gelockt werden die Singles durch Rabatte und eine große Fernsehshow. Dieses Mal habe ein chinesischer Schnapshersteller "für 11.111 Yuan den ersten 99 Käufern einen lebenslangen Reisschnapsvorrat" versprochen, berichtet Lee:
"Und sollten sie in den nächsten fünf Jahren sterben, werde das Lieferrecht automatisch an ein Familienmitglied übertragen. Der Hersteller versicherte: Single muss der Käufer nicht sein."
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