Aus den Feuilletons

Petrenkos Neunte

04:19 Minuten
Kirill Petrenko ist auf einer großen Leinwand dabei zu sehen, wie er die Berliner Philharmoniker dirigiert, im Hintergrund das Brandenburger Tor.
Kirill Petrenko bei seinem Berliner Antrittskonzert vor dem Brandenburger Tor. © Emmanuele Contini / imago images
Von Arno Orzessek · 25.08.2019
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Der neue Chefdirigent der Berliner Philharmoniker wird in den Himmel gelobt: Wie Cherub stehe er vor Gott, so die "FAZ". Und: Petrenko lasse uns in die Unendlichkeit schauen. In der "SZ" heißt es, er könne Musik poetisch fließen und schweben lassen.
Eine Anregung vorab: Lassen Sie vor Ihrem inneren Ohr bitte den vierten Satz der 9. Symphonie Ludwig van Beethovens - Stichwort: "Freude schöner Götterfunken" - auf die denkbar schönste Art und Weise erklingen. Vielleicht geraten Sie ja in Ekstase und verstehen umso besser die Begeisterung, mit der die Feuilletonisten das Antrittskonzert von Kirill Petrenko feiern, dem Nachfolger Simon Rattles als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker.
Petrenko hat am Wochenende eben jene Neunte dirigiert – und zwar so, dass Jan Brachmann nun in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG festhält:
"Achtundvierzig Minuten sind vergangen, und ‚der Cherub steht vor Gott‘. So schnell kann man mit Beethovens neunter Symphonie zum Höhepunkt kommen. Es ist tatsächlich einer. Dieser Mediantdurchbruch, diese Rückung in eine terzverwandte Durtonart, dieses einfache, aber wirkungsvolle Zerreißen harmonischer Wände, um in die Unendlichkeit schauen zu können – wird zum Ereignis, auch bei dem wahnsinnigen Tempo, das Kirill Petrenko anschlägt. Die harmonische Pointe ist Überbietung einer Erwartung, Übertrumpfung eines angepeilten Ziels durch jähen Richtungswechsel. Petrenko hat Raserei und Kalkül versöhnt und uns wieder dafür sensibilisiert, wie umwerfend Beethoven seine eigene Konsequenzlogik auszuhebeln vermag, wenn er fromm wird und uns mit dem Unverfügbaren konfrontiert."

Musik, die poetisch fließt und schwebt

Wow! Die Unendlichkeit schauen, mit dem Unverfügbaren konfrontiert werden! Wozu noch Religion, könnte man fragen, wenn es in Berlin jetzt solche Musik gibt?
In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG bejubelt Wolfgang Schreiber, wie Petrenko Beethovens Symphonie "gleichsam in den Griff nahm, mit entschiedener Hand, durchaus mithilfe seiner kritischen Erkenntnis, dass diese Symphonie all das erhalte, 'was uns Menschen auszeichnet, im Positiven wie im Negativen'. Also ließ er das Stück ohne jedes Interesse am Repräsentativen, klischeehaft Staatstragenden oder auch bloß pathetisch Erhabenen und Schönen musizieren. Beethovens letzte Symphonie erschien vielmehr in der Nähe drakonischer Sachlichkeit, ja schneidender Dringlichkeit, mit extremen Tempi und geradezu explosiv geballten Klangmischungen. Petrenko kann Musik poetisch fließen und schweben lassen."
Tja, wie drakonische Sachlichkeit, Explosivität, Poesie und Schwebezustand zusammenpassen – das muss man wohl selbst erleben.

Wo sind die Intellektuellen?

Aber werden wir wieder nüchtern."Politiker raus! Intellektuelle rein" titelt die Tageszeitung DIE WELT. Darunter steht ein Auszug aus dem Buch "Schluss mit der Geduld! Eine Anleitung für kompromisslose Demokraten" von Phillip Ruch.
Das ist jener Aktionskünstler, der das "Zentrum für politische Schönheit" gegründet hat und im aktuellen SPIEGEL die Talkshow "Maischberger" in die Nähe von Josef Goebbels' Hetzblatt "Der Angriff" rückt. Verglichen damit, klingt seine Forderung in der WELT, Intellektuellen mehr öffentliches Gehör zu verschaffen, sprich größere Talkshow-Präsenz, überaus brav:
"Das Land der Dichter und Denker macht es seiner Bevölkerung zwar nicht leicht, die intellektuellen Sprengkräfte zu finden. Aber jede Absage an die Intellektuellen ist auch eine Absage an den Anspruch, mit der Komplexität der Welt fertigzuwerden. Die Klage, die Welt werde immer komplexer, passt seltsam gut zur diskursiven Abwesenheit derjenigen, die in der Lage sind, komplexe Probleme zu erörtern und allgemein verständlich zu formulieren."
Handzahm in der WELT: der Radikalinski Philipp Ruch.

Letzter Ausweg: Flaschenpost

Witziger die TAGESZEITUNG. Sie versteigert zugunsten des Flüchtlingsrats Brandenburg eine von AfD-Rechtsaußen Björn Höcke handsignierte Flasche Sekt und gibt diverse Tipps zur Verwendung selbiger Flasche:
"Verschickt eine Flaschenpost! Für den Fall, dass Höcke die Macht ergreift, empfiehlt es sich, alles, was einem lieb und heilig ist, für kommende Zivilisationen aufzubewahren. Also: Vielleicht ein Gedicht von Brecht, das Grundgesetz oder einen Songtext von Miley Cyrus in die Flasche und ab damit."
Falls Sie uns fragen, ob das Höcke-Szenario eintreten könnte, antworten wir mit einer TAZ-Überschrift: "Genaue Prognose leider unmöglich."
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