Aus den Feuilletons

Partygänger mit beschränktem empathischen Horizont

04:23 Minuten
Am Berliner Landwehrkanal versammeln sich bei Sonnenschein ca. 1500 Menschen auf Booten und am Ufer um in Zeiten der Coronapandemie mit Musik und Partystimmung für die Rettung der Clubszene zu demonstrieren.
Die Demo "Ravekultur retten" am Berliner Landwehrkanal und Urbanhafen traf nicht überall auf Verständnis © Travel Stock Image / imago-images
Von Arno Orzessek · 03.06.2020
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Die "Tageszeitung" kritisiert scharf die "Scheißegalmentalität" der Berliner Clubszene. Die Demo für deren Erhalt am Pfingstsonntag sei eine "rauschende Coronaparty" gewesen unter dem inoffiziellen Motto: "Eure Gesundheit ist unser Tod!"
"Das eiskalte Aufklärungsmanifest" heißt ein Artikel von Maxim Biller in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Wer sich vor der Lektüre warm anziehen sollte, deutet bereits die Unterzeile an:
"Linke Identitätspolitik begreift Menschen nur als Mitglieder von Opfergruppen. Mit ihren spießigen Schreib- und Denkverboten rückt sie unbeirrt der Kunst und unserem Alltag zu Leibe - und sabotiert dabei die Moral, die sie angeblich so hochhält."

Über linke und rechte Identitätspolitik

Sie ahnen es: Maxim Biller ist mal wieder schwer gereizt. Wie gewohnt, setzt er seine Erregung in überbordende Rhetorik um. Etwa wenn er die "schreckliche Gemeinsamkeit zwischen linker und rechter Identitätspolitik" erklärt:
"So wie die alten 20.-Jahrhundert-Nazis in ihrer Jugend ein Haufen zu kurz gekommener, neidischer, völlig unbegabter, asozialer deutscher Kleinstspießer und Lumpenproletarier waren, die sich in der bürgerlichen und ziemlich jüdischen Leistungsgesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht zurechtfanden und sich, statt selbst gute Schriftsteller, Börsenmakler oder Ärzte zu werden, kurzerhand zu privilegierten Quoten-Deutschen, auch bekannt als Herrenmenschen erklärten, was die Deutschen an sich, als ewiges Zukurzgekommenenvolk, eh super fanden - genauso kommen mir heute viele, wirklich sehr viele Identitäts-Politik-People vor, die mit dem tränenreichen, stigmatisierenden Hinweis auf die sie angeblich beleidigende sexuelle, soziale, geschlechtliche, moralische Zugehörigkeit von Irgendwem zu Irgendwas einfach nur gesellschaftliche und berufliche Konkurrenten aus dem Weg räumen wollen, um zum Schluss selbst ihren Platz einzunehmen."
Ein Satz, wirklich nur ein einziger, von Biller, der in der ZEIT nicht eben sparsam mit Klischees und Ressentiments hantiert.
Lust auf eine weitere Provokation? Dann hören wir uns jetzt an, was Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer in der Tageszeitung DIE WELT verlautbart.
"Der Virologe Christian Drosten hat gerade für die Wissenschaft und wohl auch für sich selbst die Rettung von 50.000 bis 100.000 Menschenleben reklamiert. Hingegen wäre die Erkenntnis, dass wir global betrachtet durch die Lockdown-Strategie mehr Lebensjahre opfern als retten, zutiefst verstörend", erklärt Palmer, der die Erkenntnis, dass der Lockdown hier dort in der Ferne Leben kostet, natürlich fördern will. Unsere Exekutive tut selbiges ja bestimmt nicht.

Kritik an Schlauchbootdemo gegen das Clubsterben

Und nun: "Ein bisschen Spaß." Unter diesem sarkastischen Titel beschimpft Ulli Hannemann in der Rubrik "Talk of the town" in der TAGESZEITUNG die Berliner Clubszene, die am Pfingstsonntag auf dem Landwehrkanal auffällig wurde.
"Tausende Clubgänger fanden sich dort zu einer Schlauchbootdemo gegen das drohende Clubsterben. Dicht an dicht, keine Masken, wenig Klamotten, null Abstand zwischen den Booten, eine rauschende Coronaparty unter dem inoffiziellen Motto: 'Eure Gesundheit ist unser Tod!' Diese Scheißegalmentalität kennt zur Genüge, wer am Schlesischen Tor wohnt und nachts schlafen möchte. Wo Leute unterwegs sind, deren empathischer Horizont zwar räumlich und intellektuell an den Grenzen der eigenen Person, aber zeitlich selten vor acht Uhr morgens endet, bleibt anderen Menschen nur noch die Wahl zwischen Flucht, Wahnsinn und Verzweiflung."
Herrlich mies drauf: der TAZ-Autor Ulli Hannemann.

Eine tiefe Wahrheit über das amerikanische Leben

Auch nicht allzu gut gelaunt: der Schriftsteller Richard Ford. Er interpretiert in der ZEIT Donald Trumps Tweet "When the looting starts, the shooting starts", also etwa: beginnen die Plünderungen, beginnt das Schießen:
"In diesem Satz steckt eine tiefe Wahrheit über das amerikanische Leben. Wenn es einen Tornado, ein Großfeuer, irgendeine Naturkatastrophe gibt, ist das Erste, was man hier zu hören bekommt: Plünderer werden erschossen. Und was bedeutet das? Ganz einfach: Privateigentum ist wichtiger als menschliches Leben. In dem Satz steckt der ganze Trump. Man erkennt das auch daran, dass er mitten in der Pandemie die Arbeiter, zumeist Einwanderer, zurück in die Schlachthöfe zwang. Geld ist wichtiger als Leben."
Und das war’s. Falls Sie nicht wissen, worüber Sie jetzt grübeln sollen - grübeln Sie doch mal über die eminente menschheitsgeschichtliche Frage nach, die in der ZEIT Überschrift wurde: "Wie kriegen wir die Kurve?"
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