Aus den Feuilletons

Neue Lichtgestalt der Lyrik

04:21 Minuten
Die Lyrikerin Amanda Gorman steht hinter einem Pult und hebt die Hände.
Den Schmuck, den sie bei der Amtseinführung von Joe Biden trug, hat Amanda Gorman von Oprah Winfrey geschenkt bekommen, berichtet der "Tagesspiegel". © picture alliance /Consolidated News Photos/Patrick Semansky
Von Burkhard Müller-Ullrich · 21.01.2021
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Amanda Gorman hat ein Gedicht bei der Inauguration von Joe Biden vorgetragen. Der "Tagesspiegel" ist begeistert, nicht nur wegen der Lyrik: "Sie ist schlicht brillant in ihrem gelben Prada-Mantel, mit dem leuchtend roten Haarreif."
Was den Presseschauer mit der Jägerin verbindet, ist die sportliche Anstrengung, in schwierigem Gelände etwas zu entdecken, was sich versteckt und womöglich flüchtig ist: ein Gedanke, eine Formulierung. Und ja, hier ist von einer Jägerin die Rede, weil Wiebke Hüster in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG über Pirsch und Gams und Forstverwaltung schreibt.
Eine feuilletonistische Kuriosität ist ihr Artikel allemal, aus dem man erfährt, dass Gämsen eine dicke Herzwand haben und einen Puls von bis zu 200, wenn sie mit 50 Stundenkilometern bergab schießen. Apropos schießen: Das tun eben doch nur die Jäger.
"Auf den Unterschied zwischen der Jagd einerseits und einem Kampf zwischen Gleichen andererseits hat José Ortega y Gasset hingewiesen", belehrt uns die Autorin, der es jedoch eigentlich um etwas anderes geht, und zwar den sinkenden Gamswildbestand in Deutschland.
Die Verwaltung der Bayerischen Staatsforsten hat nämlich "in manchen Regionen, etwa im Chiemgau und dem Berchtesgadener Land, Gamswild ganzjährig zur Bejagung freigegeben, mit dem Argument, anders seien die für die Lawinenprävention so wichtigen Wälder nicht vor zu viel Verbiss durch die Gämsen zu schützen".
So warnt Hüster vor der mancherorts drohenden Gamsausrottung, weil moderne Jäger dem scheuen Wild nicht nur waffentechnisch überlegen sind, sondern mit allradgetriebenen Geländewagen und Seilbahnen gar nicht riskieren, in jenen Zustand zu gelangen, der traditionelle Waidleute und Presseschauer gleichermaßen zu befallen pflegt: Erschöpfung.

Heilsversprechen für eine zermürbte Gesellschaft

Doch diese Erschöpfung ist gar nichts gegen jene gesamtgesellschaftliche im Zusammenhang mit Corona. Jetzt kommt es noch einen Tick doller. Andreas Rosenfelder setzt sich in der WELT mit der von Wissenschaftlern, Aktivisten und Journalisten beworbenen Initiative mit dem Titel "NoCovid" auseinander: "Ein Heilsversprechen, das in einer von der Krise zermürbten Gesellschaft auf fruchtbaren Boden fällt", wie er schreibt.
Was aber bedeutet diese Forderung eines Herabsenkens der Infektionen auf den Nullwert in Europa konkret? Laut Rosenfelder liefe das hinaus auf "eine dauerhafte Einteilung der Welt in grüne und immer wieder neu aufflackernde rote Zonen, in welchen die Bewohner dann jeweils eingesperrt wären. Eine Dystopie aus einem Science-Fiction-Film – wenn man nicht an die Ära der eisernen Vorhänge zurückdenkt."
Nun – genau daran denkt man unwillkürlich und macht sich klar, dass solche Pläne in Deutschland so absurd und irreal nicht sind.

Junge Dichterin und alter Präsident

Und so "fragen wir uns, wenn es Tag wird, wo wir Licht zu finden vermögen", um es mit einer ab sofort weltberühmten Gedichtzeile einer neuen Lichtgestalt der Lyrik zu sagen, der 22-jährigen Amanda Gorman, die der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten literarischen Glanz verlieh, was von so gut wie allen Feuilletons so intensiv gewürdigt, nein, gefeiert wird, dass wir hier zehn Presseschauen bräuchten, um mit dem Enthusiasmus der Kollegen Schritt zu halten.
Rüdiger Schaper teilt im TAGESSPIEGEL mit, was an der Dichterin und ihrem Sechs-Minuten-Vortrags-Opus wichtig ist: "Sie ist schlicht brillant in ihrem gelben Prada-Mantel, mit dem leuchtend roten Haarreif, den runden goldenen Ohrringen und dem Ring mit dem Vogel im Käfig. Den feinen Schmuck hat ihr Oprah Winfrey geschenkt."
Sie sei die Jüngste in der langen Reihe der poet laureates bei der Inauguration eines neuen Präsidenten, lässt Schaper wissen, während Sandra Kegel in der FAZ betont, dass diese Reihe mit nur zwei Vorgängern und einer Vorgängerin gerade nicht lang ist. Auch unbekannt, wie Schaper schreibt, ist die Poetin nach Auskunft von Kegel keineswegs: "Die Poetry Foundation, so etwas wie der Gotha der amerikanischen Lyrik, listet sie seit mehreren Jahren."
Jedenfalls passte sie perfekt zu Biden, wie die FAZ-Expertin feststellt: die Jüngste, die je bei einer Amtseinführung sprach, zum ältesten amerikanischen Präsidenten, der als Kind gestottert und sich das mit Hilfe von Gedichten abtrainiert haben will, während auch Amanda Gorman als Kind eine Sprachbehinderung hatte. "Amerikanischen Journalisten erzählte sie, diese Störung habe sie überhaupt erst zur Lyrik geführt."
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