Aus den Feuilletons

"Moral ist nicht gratis zu haben"

Was ist Aufklärung?, fragte schon Immanuel Kant im Jahr 1784.
Was ist Aufklärung?, fragte schon Immanuel Kant im Jahr 1784. © picture alliance / dpa / Foto: Diener
Von Adelheid Wedel · 29.06.2018
Was ist Aufklärung? Für die "NZZ" ist die Ungewissheit, ob eine Entscheidung moralisch richtig oder falsch ist, der Preis der Freiheit. Die "Welt" beschäftigt sich mit Kosellecks geschichtsphilosophischem Werk über Aufklärung: "Kritik und Krise".
"Was ist Aufklärung?", fragt die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG und widmet der Antwort auf diese Frage eine spannend zu lesende Zeitungsseite. Thomas Ribi schlägt selbst einen aufklärerischen Ton an: "Aufklärung ist zum Beispiel die Einsicht, dass niemand die Vernunft für sich gepachtet hat."
Problematisch sei: "Für die Gralshüter des Richtigen gibt es in politischen und gesellschaftlichen Fragen zusehends mehr Haltungen, über die man gar nicht diskutieren muss, weil sie als 'überholt' gelten – aus der eigenen, selbstredend korrekten Haltung heraus." Und so kommt es dazu, meint Ribi: "Was irritiert, provoziert und die eigenen Denkgewohnheiten herausfordert, wird nicht energisch bekämpft, sondern ganz leidenschaftslos von der Diskussion ausgeschlossen."

Ungewissheit ist der Preis der Freiheit

Die angeblich richtige Meinung aber, so setzt Ribi fort, beziehe ihre Wahrheit daraus, dass sie den Grundsätzen entspricht, die als moralisch einwandfrei gelten. "Richtig ist, was gut ist. Oder als gut gilt." Aber "Moral ist nicht gratis zu haben. Wir müssen um sie ringen", appelliert der Autor in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG, denn "welche Entscheidung in einem konkreten Fall moralisch richtig ist, ist kaum je eindeutig." Mit dieser Ungewissheit zu leben, sei anstrengend, "es ist der Preis, mit dem wir das kostbarste Erbe der Aufklärung bezahlen: die Freiheit."

Reinhart Kosellecks schwarzes Buch "Kritik und Krise"

Die Wochenendbeilage der Tageszeitung DIE WELT, die literarische Welt, preist uns ein ebenfalls aufklärerisches Buch an. Mit den Unterzeilen "Gibt es unsere Welt nur im Zerfallsmodus? Oder steckt im Chaos eine Chance?" macht uns Andreas Rosenfelder neugierig auf Reinhart Kosellecks Buch "Kritik und Krise". Es geht zurück ins Jahr 1959.
"Mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft begann ein Kontinent, der eben noch Schlachtfeld gewesen war, seine Einigung, alle Indikatoren stimmten, eine Zeit des Aufbruchs. Ausgerechnet in diesem vermeintlich so hellen Moment", so beschreibt es Andreas Rosenfelder, "erschien ein dunkles, beinahe schwarzes Buch, das seinen Autor zum Star der Gelehrtenrepublik machte."
Reinhart Koselleck: Kritik und Krise (Buchcover)
Reinhart Koselleck: Kritik und Krise (Buchcover)© Suhrkamp Verlag
Es war Kosselecks Dissertationsschrift "Kritik und Krise", "brillant geschrieben und brutal gedacht, mit der er den Deutschen eine zutiefst pessimistische Geschichtslektion gab." Schon die Einleitung zum Buch, so Rosenfelder, wirke auf eine fast schon unheimliche Weise so, als beschreibe Kossellek "ein Jetzt, in dem fast alle Institutionen auf dem Spiel stehen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden, um Frieden, Wohlstand und Sicherheit in Europa zu garantieren."

Francesca Melandri legt Europa auf die Couch

Das gleiche Blatt, DIE WELT, stellt uns eine Frau vor, "die Europa auf die Couch legt". Die Italienerin Francesca Melandri entblößt in ihrem Roman "Alle außer mir" "peu á peu viel finstere Zeitgeschichte. Es geht tief in die dunkle italienische Kolonialvergangenheit hinein, gleichzeitig haben die Figuren gehörig mit der Bewältigung der rassistischen Gegenwart zu tun", schreibt Marc Reichwein in seiner Rezension.
Er lobt: "Mit diesem Buch versteht man, warum Italien so massiv populistischen und antipopulistischen Parteien vertraut. Man lernt die italienische Gesellschaft als rassistisch kennen und die offene Flanke ihrer nie aufgearbeiteten Faschismus- und Kolonialgeschichte."

John Heartfields aufgespießte Taube und mehr online

Der TAGESSPIEGEL verkündet Erfreuliches: "Ein Stichwort, ein Klick, und schon ist die brutal aufs Bajonett gespießte Taube da. Die berühmte Antikriegsmontage von John Heartfield spuckt der neue Online-Werkkatalog der Akademie der Künste gleich in fünf Varianten aus: hochauflösend, perfekt zoom- und drehbar, mitsamt Lightboxfunktion und Diagrammen zur Werkstatistik gespickt mit wissenschaftlicher Expertise."
6 200 grafische Werke, darunter sämtliche Montagen Heartfields, wurden digitalisiert. Dazu Briefe, Fotos. "Aber", so fragt Elke Linda Buchholz, "hat der Dada-Cheflayouter und Anti-Nazi-Kämpfer in seinem 50. Todesjahr noch Biss? Geben seine an die Schmerzgrenze gehenden Bildmontagen heute im Kampf gegen die neuen Rechten noch Input?"
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