Aus den Feuilletons

Mit dem Smartphone den Lauf der Welt bestimmen

Der deutsche Philosoph Immanuel Kant ("Kritik der reinen Vernunft") in einem Stich von Johann Leonhard Raab nach einem Gemälde von Gottlieb Döbler aus dem Jahr 1781.
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (Stich von Johann Leonhard Raab von 1781) © dpa / picture alliance / Bertelsmann Lexikon Verlag
Von Hans von Trotha · 25.06.2018
In seiner Erkenntnistheorie suchte der Philosoph Immanuel Kant nach Antworten auf Fragen des menschlichen Daseins. 250 Jahre später nähert sich der Tech-Gigant Google der Lösung mit einem technischen Ansatz, berichtet die „SZ“.
"Oft", schreibt Michael Moorstedt in der Süddeutschen, "bekommt man ja die großen Veränderungen gar nicht mit, weil sie sich zunächst ganz unscheinbar vollziehen."
Wie damals, als in Offenbach, ja ausgerechnet in Offenbach, auf "schüchtern klirrendem Kies" die Romantik geboren wurde, wie Tilman Spreckelsen in der FAZ behauptet, Bettina von Arnim mit den Worten zitierend: "Frühling schwellet die Erde, ringsum drängt er die Keime – und grünt in entfaltenen Blättern – "

Offenbach als eine Art Konzentrat von Berlin

Ja, wenn sich eine neue Epoche derart anbahnt, kann es schon vorkommen, dass das in Offenbach übersehen wird. Wobei das FAZ-Feuilleton sich zur Aufgabe gemacht hat, dieses unser Bild von Offenbach nachhaltig zu verändern, indem sie Offenbach eine vollständige Feuilleton-Ausgabe widmet – Offenbach, Wohnort von Frank Witzel; Ort "architektonischer Wiedergutmachung"; "Vorbild für Deutschland, weil (es) mit (seinen) Problemen zu leben gelernt hat". Christian Welzbacher hat es übernommen, sich zu der im Rahmen dieses Projekts wahrscheinlich unvermeidbaren Behauptung zu versteigen: "Offenbach ist Avantgarde." Außerdem sei Offenbach "nicht nur Neukölln, es (sei) auch Lichtenberg, Reinickendorf, Kreuzberg, Schöneberg, Charlottenburg und sogar Zehlendorf", ja, meint Welzbacher: "Man könnte an dieser Stelle die These wagen, Offenbach sei eine Art Konzentrat von Berlin, sozusagen 'Berlino ristretto'".
Das wird man wahrscheinlich weder in Offenbach noch in Berlin gern lesen – und allen anderen wird es egal sein. Nicht aber das mit der Geburt der Romantik auf "schüchtern klirrenden Kies". Womit wir wieder beim Anfang wären, bei Michael Moorstedt und den schleichend sich anbahnenden Veränderungen, wobei man in München nicht verhangen auf romantische Flußtäler blickt, sondern glasklar ins Silicon Valley, auf Google.

Weltformel zum Greifen nah?

"Ohne offizielle Ankündigung", berichtet Moorstedt, "tilgte das Unternehmen irgendwann Ende April oder Anfang Mai das Credo "Don’t be evil" aus den offiziellen Konzern-Verhaltensregeln." Während der Satz verschwand, tauchte, so Moorstedt, "auf der Tech-Website The Verge ein Google-internes Video auf, in dem spekuliert wird, wie durch permanentes Datensammeln und gleichzeitigen Einsatz von künstlicher Intelligenz die individuellen Probleme der Menschen, aber gleich auch die großen Herausforderungen der gesamten Spezies gelöst werden können."
Was bedeuten würde, dass Googles Anspruch den der deutschen Romantik noch übersteigen würde, obwohl die es ausdrücklich mit dem Unendlichen aufgenommen hatte.

Maßgeschneiderte Antworten vom Tech-Giganten

Was Google erstellen will, ist laut Süddeutscher, "'eine beständige Repräsentation dessen, wer wir sind, eine verschlüsselte Version unseres Selbst', bestehend aus sämtlichen 'Handlungen, Entscheidungen, Vorlieben, Aufenthaltsorten und Beziehungen'. Ausgehend von dieser Informations-DNA könnte der Nutzer dann Lebensziele definieren, zu deren Umsetzung das Smartphone die Lösungsansätze parat hat. Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Google hat", so Moorstedt, "auf all das die genau maßgeschneiderten Antworten."
Als damals in Offenbach der Kies schüchtern klirrte und die Romantik geboren wurde, hat solche Fragen noch der berühmteste Philosoph der Epoche gestellt, in diesem Fall Kant. Bald stellt sie also keiner mehr, weil das Smartphone die Antworten schon hat. Praktisch ist das schon. Zumal wir uns dann das mit den Leidenschaften ersparen. Denen geht Paul Jandl in der NZZ nach, ebenfalls Kant zitierend:
"Man ist seines Glückes Schmied, sagt die Redensart", sagt Jandl. "Man muss es schmieden, und dafür braucht es die Temperatur der Leidenschaften. Und", schreibt Jandl, "mit dieser sanften Individuation hatte schon der Philosoph Kant seine Schwierigkeiten. Irgendwie hängen die Leidenschaften an der Vernunft", versucht Jandl, uns Kant zu erklären, "weil sie die ja brauchen, um wirklich ans Ziel der Wünsche zu kommen. Allerdings", so Jandl, "kann ihnen die Vernunft auch den Buckel runterrutschen" Und das, so Jandl, sei "vertrackt".
Ist aber, wenn Google die Sache erst mal algorhythmisch gelöst hat, auch egal. Dann muss uns auch gar keiner mehr zuzurufen "Don't be evil". Dann hat sich das mit den Leidenschaften, die uns Paul Jandl in der NZZ eh als den "Eierlikör unter den Süchten" verkauft.
Ach, manchmal ist es doch auch ganz gut zu wissen, dass nicht alles so kommt, wie es kommen könnte.
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