Aus den Feuilletons

Männer ohne Moral, Mob und Mittelmaß

30.08.2018, Berlin: Thilo Sarrazin stellt bei einer Pressekonferenz sein neues Buch "Feindliche Übernahme - Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht" vor. Foto: Kay Nietfeld/dpa | Verwendung weltweit
Autor Thilo Sarrazin: Buchvorstellung mit vorwiegend negativem Echo. © picture alliance / dpa / Kay Nietfeld
Von Tobias Wenzel · 01.09.2018
Das Gedicht, das Eugen Gomringers Poem auf der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule Berlin ersetzt, sei nur Mittelmaß, meint die FAZ. Der Mob wütet in Chemnitz, berichtet die TAZ. Und Thilo Sarrazin hat ein moralisches Defizit, erklärt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG.
Wer nach den Themen der Feuilletons dieser Woche fragt, dem könnte man antworten: Männer ohne Moral, Mob und Mittelmaß. Barbara Köhler stellte in der Zeit ihr Gedicht vor, das bald an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule Berlin zu sehen ist. Statt des unschuldig-schönen, aber formal bahnbrechenden spanischsprachigen Gedichts von Eugen Gomringer, das mit dem Wort "avenidas" beginnt, das Mitglieder des Allgemeinen Studierendenausschusses der Hochschule als sexistisch empfunden hatten und das die Hochschule deshalb nun entfernen lässt.
Christoph Hein vom PEN hatte von einem "barbarischen Schwachsinn" gesprochen, Gomringer selbst von einem "Eingriff in die Freiheit von Kunst und Poesie". Und nun erläuterte Barbara Köhler ihre Verse, die auf die vorausgegangene Debatte anspielen. "Das Gedicht wendet sich an die Öffentlichkeit, an die Vielen, die den Ort täglich passieren: Es begrüßt sie ausdrücklich, es gäbe ihnen gerne Verschiedenes zu denken", schrieb Köhler.

Es allen recht machen zu wollen, ist kein guter Ansatz für Kunst

Es klang, als hätte sie es allen recht machen wollen. Kein guter Ansatz für Kunst. Das Ergebnis: ein Gedicht, das man nur mit sehr viel Wohlwollen noch als Mittelmaß bezeichnen kann. Sandra Kegel sprach in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von "Fassadenschwindel". "Es sollen auch einzelne Buchstaben des alten durch den neuen Text gleichsam hindurchschimmern", schrieb sie. "Überschreibung statt Auslöschung – das ist gut, denn das tut auch nicht so weh. Und hat außerdem den unschlagbaren Vorteil, dass die Akteure sich hier in alle Richtungen absichern. Gomringer kommt weg? Nein, er ist doch noch da!"
Erdoğan ist schon weg. Allerdings nur als goldene Statue, die in Wiesbaden stand. "Fans und Feinde des türkischen Staatspräsidenten versammelten sich, es kam zu Wortgefechten, Eier flogen, der Ordnungsdezernent der traditionell ordentlichen Landeshauptstadt berichtete von Handgreiflichkeiten", schreibt Tobias Becker im neuen Spiegel und außerdem, dass die Stadt die Statue als Sicherheitsrisiko entfernen ließ: "So kann man das sehen: Kunst ist ein Sicherheitsrisiko, Demokratie sowieso, sie gefährden die öffentliche Ordnung."
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ergänzt nun Niklas Maak: "Die Hilflosigkeit der Politik offenbarte sich in einem Tweet der hessischen Ministerin für Europa-Angelegenheiten, Lucia Puttrich: Kunst dürfe provozieren, schrieb sie, aber für den goldenen Erdoğan sei ‚die Lage in der Türkei viel zu ernst‘." Maak kann es nicht fassen: "Kunst darf die öffentliche Ordnung nur dann stören, wenn sie die öffentliche Ordnung nicht stört – wenn es ernst wird, muss sie schweigen? ‚Guernica‘ oder Käthe Kollwitz‘ ‚Mütter 1914-1916‘ hätte man nach dieser Logik sofort wieder einstampfen müssen".

Die Täter fühlen sich als Opfer

"Muss aus Trauer Hetze werden?", fragte Jürgen Kaube rhetorisch in der FAZ mit Blick auf die Ereignisse in Chemnitz, wo nach einem brutalen Mord Jagd auf unschuldige, ausländisch aussehende Menschen gemacht und der Hitlergruß gezeigt wurde: "Teile der Bevölkerung, darunter viele junge Männer in schwarzen T-Shirts, rasten kalkuliert aus, weil ein Verbrechen geschehen ist. Sie rasten aber nicht des Verbrechens wegen aus", argumentierte Kaube.
"Denn sonst müssten sie in Sachsen ja allein im Jahr 2017 schon 26 Mal ausgerastet sein. So viele Tötungsdelikte verzeichnet die Kriminalitätsstatistik dort. Wenn ein Deutscher eine Deutsche totschlägt, kommt es selten zu Demonstrationen." Und weiter: "Gauland und seine Spießgesellen aber nennen das, was sich gerade in Chemnitz abspielt, Selbstverteidigung."
Dass sich, wie der Mob in Chemnitz, solche Täter als Opfer fühlen, sei sogar die Regel, erläuterte in der taz der Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer. "Denken Sie an die Novemberprogrome 1938, die sogenannte Kristallnacht. Da hat man auch einen Mord, den ein verzweifelter jüdischer junger Mann an einem deutschen Diplomaten in Paris begangen hat, zum Anlass genommen." Solche Taten würden instrumentalisiert: "Darauf folgt dann eine rauschhafte Inszenierung, wo die Männer behaupten, Sie wollten ihre Frauen und Kinder schützen."
Nichts anderes will wohl auch Thilo Sarrazin. In seinem neuen Buch "Feindliche Übernahme" plädiert er dafür, gar keine Muslime mehr nach Europa zu lassen. "Thilo Sarrazin erteilt sich und seinen Lesern die Lizenz, das Wissen über den Islam zu ignorieren: Traut einfach euren Ängsten!", fasst es Mark Siemons in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zusammen. "Deutschland braucht dieses Buch so nötig wie einen Ebola-Ausbruch", urteilte Sonja Zekri in der Süddeutschen Zeitung.

Zerrbild vom Islam - und von Europa

In der Zeit wies die Islamwissenschaftlerin Johanna Pink nach, dass Sarrazin nicht nur von der islamischen Religion, sondern auch von Europa ein Zerrbild zeichnet: "Die europäische Moderne hat aus seiner Sicht keine Schattenseiten. Der Kolonialismus kommt allenfalls am Rande, als Segen für die kolonisierten Völker, vor."
"Heute ist er wieder am Ruder, der amoralische Mensch", sprach, im Interview mit der taz, der ukrainische Filmregisseur Sergei Loznitsa einem aus der Seele. Hanns-Georg Rodek von der Welt sagte im Gespräch mit Loznitsa: "Selbst Filme über schreckliche Dinge enden meist mit einem kleinen Hoffnungsschimmer. In Ihrem Film ‚Donbass‘ kann ich selbst den nicht entdecken." Die Reaktion des Regisseurs: "Ich auch nicht."
Aber damit Sie, liebe Hörer, sich nun vor lauter Hoffnungslosigkeit in den Feuilletons dieser Woche keinen Dolch in die eigene Brust rammen, sei hier lieber noch schnell zitiert, was Loznitsa danach zur Filmszene sagte, in der der Mob einen Menschen fast totprügelt: "Wir haben diese Szene auf einer richtigen Straße geprobt, mit rund 70 Statisten, da bremste plötzlich ein unbeteiligter Wagen, der Fahrer stieg aus und schrie die Menge an: ‚Hört sofort auf! Was tut ihr denn hier?!‘ Er war bereit, mit der großen Übermacht zu kämpfen. In diesem Moment habe ich kurz doch wieder an die Menschheit geglaubt."
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