Aus den Feuilletons

Mähne adé!

04:18 Minuten
Ein Friseur mit Mundschutz schneidet einem Kunden die Haare - seit 4.Mai dürfen Friseure unter Hygieneauflagen wieder für Kunden öffnen
Wuschelige Haare werden wieder von Fachpersonal geordnet, freut sich Paul Jandl in der NZZ. © Picture Alliance / dpa / ZUMA Wire / Russell Hons
Von Burkhard Müller-Ullrich · 07.05.2020
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Das äußere Erscheinungsbild vieler Menschen habe im Corona-Lockdown stark gelitten, schreibt die "NZZ". Die Wiedereröffnung von Frisörsalons sei auch ein Schritt in eine vergangene Normalität und das Ende ungeplanter Ponyfrisuren.
Bevor dem Presseschauer die lang gewachsenen Haarsträhnen derart vor den Augen hängen, dass er seine geliebten Feuilletons nicht mehr lesen kann, lässt er sich von Paul Jandl in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG gewissermaßen solidarisch trösten.
Auch Jandl freut sich nämlich auf den nächsten, baldigen, endlich wieder möglichen Friseurbesuch. "Während wuschelige Virologen mit jedem Tag an Interessanz gewinnen, bleibt unsereins auf Frisuren sitzen, die wir das letzte Mal 1982 hatten", schreibt er und zieht Vergleiche zu Prominenten: "Kai Pflaume trägt jetzt Pony, Merkel hat Spliss."
Der Feuilletonist als Alltagslebensbetrachter: Hier bei der Haarbehandlung ist er in seinem Element. Er lauscht dem "Parlando an der Spülmuschel", denn wahrhaftig beherrscht kaum ein Berufsstand so sehr die Kunst der Konversation wie die Coiffeure. "Ein Freund von mir", berichtet Jandl, "wechselt jedes Mal den Friseur, weil er fürchtet, dass er wiedererkannt und in ein Gespräch gezogen wird."
Nun, mit der obligatorischen Anti-Corona-Maskierung ist die Gefahr der Wiedererkennung sicherlich geringer, aber nicht jedermann empfindet solchen Vermeidungsdrang; es soll ja auch Leute geben, die ihren Friseur richtig gernhaben und ihm zum Beispiel Lesefrüchte aus irgendwelchen Feuilletons vortragen. Jedenfalls gemahnt einen die verwilderte Mähne auf dem Kopf daran, dass mit dem anhaltenden Lockdown auch ein zivilisiertes Aussehen in Gefahr geriet, weshalb der Autor einfach recht hat, wenn er schreibt: "Auch wenn wir in der neuen Normalität leben, wollen wir ein Stück der alten zurück."

Hinter den Ischgl-Kulissen

Weder zivilisiert noch normal ist alles, was der österreichische Fotograf Lois Hechenblaikner mit dem Ortsnamen Ischgl verbindet. In seinen Bildern dokumentiert er die dekadente Touristensause, die unter der Bezeichnung Après-Ski dort Winterabend für Winterabend stattfindet und bekanntermaßen für einen Coronaausbruch sorgte.
"Schon als Kind fiel mir auf, dass viele Deutsche so eine gewisse Eingesperrtheit haben. Etwas Gehemmtes. Das haben unsere Bergbauernbuben instinktiv kapiert: So ein deutscher Tourist braucht einen Anschubser, damit er loslässt. Den Deutschen musst du einstellen zwischen 0,5 und einem Promill, da beginnt die Wurstigkeit, und dann kannst du ihn abmelken", erklärt Hechenblaikner im Interview mit der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG – ein kabarettistisches Kabinettstück übrigens von einem Mann, der zwischen Gastgeber und Gastnehmer unterscheidet und wegen der entsetzlichen Bausünden in Bergdörfern wie Ischgl schon mal für eine Massenverhaftung von Architekten plädiert hat. Und der die sozialpsychologischen Hinter- und Untergründe des Fremdenverkehrskonzepts folgendermaßen analysiert:
"40 Prozent der Leute sind ja heute geschieden. Die meisten sind aber noch voll im Saft und wollen einen guten Secondhand-Durchgang erleben. Ischgl hat sich als alpintouristische Hoffnungsstätte für den hormonellen Haushalt etabliert."

Erfindung der Pizza

Und was passt zu der sinnlosen Sause des Ortsfremden als kulinarisches Global-Pendant? Natürlich Pizza, dieses zur italienischen Nationalspeise umfantasierte Armenessen aus Kampanien, von dem sich heute die halbe Welt ernährt und dem die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG ihre "Geschmackssache"-Kolumne widmet.
"Am 11. Juni 1889 war der italienische König Umberto I. mit seiner Gemahlin Margherita auf Staatsbesuch in Neapel und ließ sich von Raffael Esposito, dem Besitzer der Pizzeria Brandi, einen Teigfladen zubereiten. Und weil der Pizzabäcker ein glühender Monarchist war, gab er seiner Pizza mit Basilikum, Tomaten und Mozzarella die Farben der italienischen Nationalflagge – schon war die Pizza Margherita geboren, die Mutter aller Hefeteigfladen, auch wenn man längst weiß, dass sich das Königspaar schon Jahre zuvor Pizzen in seinen Palast liefern ließ."
Man kann also sagen: Pizza war Fake vom historischen Anfang an. Aber wen interessiert Wahrheit, wenn es denn lecker schmeckt? Dieses diabolische Rezept gilt übrigens auch für manches Feuilleton.
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