Aus den Feuilletons

Kunstfreiheit oder Demokratie?

04:19 Minuten
Besucher lesen die Kommentare auf den Zettelchen, die an der Stelle befestigt sind, an der das Gemälde "Hylas und die Nymphen" (1896) von John William Waterhouse in der Manchester Art Gallery ausgestellt war.
2018 wurde in Manchester das Gemälde "Hylas und die Nymphen" abgehängt – als Folge der #MeToo-Debatte. Besucher konnten ihre Gedanken dazu auf Post-its festhalten. © Britta Schultejans/dpa
Von Tobias Wenzel · 13.11.2019
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Die "Zeit" widmet sich den Protesten derer, die sich nicht in Museen repräsentiert fühlen. Und das Hamburger Blatt wundert sich über das Verhalten der Institutionen: Kunstwerke würden zu schnell aus Ausstellungen verbannt und die Freiheit der Kunst nicht verteidigt.
Ein martialisch blickender junger Mann im Kapuzenpullover, mit beiden Händen hält er einen Baseballschläger, scheint bereit zum Angriff. Zu sehen ist er auf einem Foto in der TAZ. Dazu die Überschrift: "Guten Morgen, Herr Professor!" Daniél Kretschmar macht sich auf diese Weise über die "Bildsprache" lustig, die er bei anderen Journalisten beobachtet zu haben glaubt, wenn sie über Studenten schreiben, die von ihnen als rechts eingestufte Dozenten verbannen oder deren Vorlesungen verhindern wollen.
"Von FAZ bis taz wird lamentiert über die unverständigen und unverschämten Student*innen, die zu allem Überdruss noch auf einem Sternchen in ihrer Funktionsbeschreibung bestehen", schreibt Kretschmar, der in seinem Text so viele Gendersternchen setzt, als spekulierte er auf ein Fleißsternchen.
Dass Studenten zum Beispiel die Vorlesung des Wirtschaftswissenschaftlers und AfD-Mitbegründers Bernd Lucke an der Uni Hamburg nicht nur verbal gestört, sondern ihn auch körperlich bedrängt und seinen Laptop zugeklappt haben, um die Veranstaltung zu verhindern, scheint für Kretschmar unproblematisch zu sein.
Zweimal erwähnt er die gute Besoldung der Professoren, als ob ein Mensch mit steigendem Einkommen seine Rechte verlöre. Die Studenten wiederum erscheinen in Kretschmars erschreckend kruder Darstellung als tapfere Widerständler, die die undemokratischen Hochschulen demokratisieren wollten: "Sie sind diejenigen, die die Geschichte heutiger Konflikte schreiben und deuten werden – wenn sie selber alt sind und vielleicht nicht mehr ganz so weiß und männlich." Es klingt wie eine Drohung.

Im Teufelskreis demokratischer Kunst

Von der fragwürdigen Demokratisierung der Hochschulen zur nicht weniger umstrittenen Demokratisierung der Kunst. Hanno Rauterberg spricht in der ZEIT vom "Teufelskreis demokratischer Kunst". Museen reagierten auf die Proteste derer, die sich nicht repräsentiert fühlten, auffallend defensiv, berichtet er. Sie entfernten Kunstwerke oder deckten sie ab und verteidigten gerade nicht die Freiheit der Kunst:
"Niemanden will man brüskieren, niemand soll sich zurückgelassen fühlen", schreibt Rauterberg. Das alles führe zu einem Teufelskreis: "Je weniger die künstlerischen Qualitäten bei der Auswahl der gesammelten Werke eine Rolle spielen, desto mehr dürfen sich jene zu Protesten und Boykottaufrufen ermutigt fühlen, die ihre sozialen und politischen Ideale widergespiegelt sehen wollen und gerne auch die historische Kunst an den moralischen Maßstäben der Gegenwart messen", analysiert Rauterberg.
"Je mehr aber diese demokratisch bestimmten Maßstäbe das Programm der Museen prägen, desto schwerer wird es, für die unbedingte Freiheit der Kunst, auch für ihre Absurditäten und ihre Zumutungen einzutreten."

Familienselbstmorde in der Türkei

Der kritische Zustand der türkischen Wirtschaft ist für viele Menschen eine unerträgliche Zumutung. In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG berichtet Bülent Mumay über eine Musiklehrerin aus Istanbul, die ihre drei arbeitslosen Geschwister nicht mehr versorgen konnte und sie und sich selbst deshalb umgebracht haben soll.
"Eine halbe Stunde nach dem Abtransport der Leichname klingelte der Stromversorger an der Tür, um wegen unbezahlter Rechnungen den Strom abzustellen", schreibt Mumay. "Und wem gehört der Elektrizitätsbetrieb? Er gehört zum Bauunternehmen Cengiz-Kolin, dem Erdogan in seiner Amtszeit unzählige Ausschreibungen zugeschanzt hat. Wegen rund 100 Euro stellte das Unternehmen in der Wohnung den Strom ab, die Steuerschulden des Unternehmens selbst wiederum in Höhe von 66 Millionen Euro hat Erdogan längst mit einem Federstrich gelöscht."
Als Gegenleistung habe das Unternehmen für Erdogan Medien aufgekauft, die Opposition zu Terroristen erklärt und das erwähnte Familiendrama als "Folge der Wirtschaftskrise" totgeschwiegen.
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